piwik no script img

Schrippen und Brocken

Vor hundert Jahren eröffnete die Schrippenkirche in der Weddinger Ackerstraße. Sie bot obdach- und arbeitslosen Berlinern mehr als einen schlichten Gottesdienst

Zwei Schrippen und etwas Kaffee zum Sonntagmorgen – vor 120 Jahren muss das für Berlins Obdachlose viel bedeutet haben. Massenarbeitslosigkeit und Landflucht verschafften dem Elend in der Stadt Hochkonjunktur. Zu hunderten strömten arbeitslose und einfach nur hungrige Menschen in Constantin Liebichs Sonntagsgottesdienst.

Die Räume des 1882 von Liebich in der Oranienstraße gegründeten Vereins „Dienst am Arbeitslosen“ platzten aus allen Nähten. Die „Schrippenkirche“, wie sie im Volksmund hieß, wurde berühmt. Kamen zur ersten Predigt noch 25 Bedürftige, so drängten sich in der heute vor hundert Jahren eingeweihten neuen „Schrippenkirche“ an der Ackerstraße 52 im Wedding rund 600 Menschen.

„Liebich und ein paar Handwerksburschen wollten den Leuten wieder was zum Beißen geben“, fasst Reinhardt Burghardt, der heutige Chef des Vereins Schrippenkirche e. V., das Anliegen zusammen. Darüber hinaus, sagt Burghardt, bot das Vereinshaus einigen Arbeitslosen eine Festanstellung. Und Dank der so genannten Brockensammlungen – Sperrmüll wurde in der ganzen Stadt aufgelesen und von Handwerkern aufbereitet – gab es in Berlin bald sogar ein zweites „KaDeWe“: „Kaufhaus des Wedding“ nannten die Nachbarn Liebichs Second-Hand-Verkauf.

1937, neun Jahre nach Liebichs Tod, wurde aus „Dienst am Arbeitslosen“ der Schrippenkirchen e. V. Mit dem Namen änderte der Verein auch seine Ziele. Nach einer Zwangspause während der Nazi-Herrschaft lebte die „Schrippenkirche“ als Kinderheim wieder auf. Heute leben 48 Behinderte und 55 Senioren in der Ackerstraße.

Liebichs Sozialbau aber existiert nicht mehr. „Deshalb feiern wir das Jubiläum auch nicht,“ sagt Burghardt, „denn dann müssten wir auch den umstrittenen Abriss des schönen Hauses feiern.“ Mitte der 80er-Jahre wütete der städtebauliche Kahlschlag im Wedding. Auch eine Gruppe von Hausbesetzern konnte Liebichs Erbe nicht retten. Und wenn jetzt Bahnchef Mehdorn – wie angekündigt – die Suppenküchen in den Bahnhofsmissionen schließt, sind Kaffee und Schrippen für Obdachlose bald wieder Mangelware. THILO KUNZEMANN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen