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Ankunft an der falschen Küste

Erst gibt es Prämien für Auswanderer und dann eröffnet das Land eine Rückholagentur

aus Bremen und Rostock ASTRID GEISLER

Beim ersten Urlaub hat er aufgegeben. Das Gefühl war zu stark. Er lief einfach nur den Boulevard hinunter, Rostocks Flaniermeile. Sah die hanseatischen Fassaden, die üblichen Fußgängerzonen-Läden und empfand Glück. Pitt Jansen beschreibt den Augenblick wie andere ihren ersten Trip: Der Boden veränderte sich, es zog in den Fußsohlen, löschte die Zweifel. Er wollte zurück.

„Ein bisschen schwer nachvollziehbar, oder?“ Pitt Jansen fragt sich oft, ob man ihn noch versteht, seit Rostock sein Urlaubsziel ist und nicht mehr sein Zuhause. Wieder hat er einen dieser Arbeitstage hinter sich, die seit 15 Monaten sein Leben ausmachen: Um acht das kahle Mietshaus in der Bremer Neustadt verlassen, ins Büro an den Hafen gefahren, Märkte analysiert, zum Mittag im Internet Ostsee-Zeitung gelesen, nochmal Märkte analysiert, zurückgefahren. Jetzt wartet noch die junge Welt im Briefkasten und in seinem 15-Quadratmeter-Zimmer ein Abend zwischen Wäscheständer und Plastikblumenstrauß.

Seit seinem ersten Heimaturlaub arbeitet Pitt Jansen, 26, Jungmanager bei einem Bremer Handelsunternehmen, an einem Projekt, von dem keiner der Kollegen weiß. Pitt Jansen lässt sich nicht fotografieren und heißt in Wahrheit anders. Als einer von 170 Bewerbern steht er in der Kartei von „mv4you“, Deutschlands erster Rückholagentur. Sie soll im Auftrag der Landesregierung hoch qualifizierte Abwanderer heimlocken nach Mecklenburg-Vorpommern. Menschen wie Pitt Jansen.

Pitt bietet seinem Gast einen Bürostuhl an und serviert Pfefferminztee. „Übrigens Thüringer Tee“, sagt er. Es ist keine Nebensache für ihn, dass er Ostware mit nach Bremen bringt, auch kein Klischee. „Viele Leute hier finden das a priori minderwertig.“ Fit-Spülmittel, Florena-Crème, Pitt verteidigt das auch im Westen. Er greift die Bahlsen-Keksschachtel auf dem Tisch: „Soll ich lieber Knusperflocken holen?“

„An das Heimweh appellieren“, damit sich Abwanderer nicht endgültig für den Westen entscheiden. Mit diesem Ziel, drei Teilzeitkräften und 268.000 Euro vom Schweriner PDS-geführten Arbeitsministerium machte sich Projektleiterin Lilli Ullrich im November an die Arbeit. Die Agentur verteilte Werbezettel, knüpfte Kontakte. Informatiker entwarfen eine Datenbank, um potenziellen Rückkehrern personalisierte E-Mails mit Heimatinformationen zu schicken. Die Hoffnung: Den einen könnten die Spielergebnisse seines Kegelklubs zurücklocken, den anderen Wirtschaftsnachrichten oder Wohnungsangebote. Nur eines wollte die Agentur eigentlich nicht: Jobs in der Heimat vermitteln.

Als Pitt vor 15 Monaten in den Westen zog, war keiner seiner Freunde überrascht. In Rostock hatte er neun Monate vergeblich Bewerbungen verschickt, trotz Zweierdiplom in Betriebswirtschaft. Bis zuletzt teilte er mit der kleinen Schwester ein Zimmer, außer der Mutter hatte keiner Arbeit. Aus seinem Studienjahrgang blieben nur zwei, der Rest zog weg – in den Westen. „Herr Jansen“, erklärte ein Personalchef in Bremen, „50.000 Mark im Jahr, brutto, und Sie sind unser Mann.“ Unser Mann! Pitt glaubt: Für den Preis fand die Firma keinen im Westen. Aber er unterschrieb.

Hört man Pitt Jansen über seine Erlebnisse bei der Bremer Handelsgesellschaft berichten, dann möchte man glauben, die Fusion von BRD und DDR sei elf Tage her, nicht elf Jahre. Manche Kollegen im Büro hätten „ihre Ablehnung gezeigt“. Zur Begrüßung hätten sie von „deformierten Elementen“ geredet, seien „äußerst intolerant“. „Ein junger Mensch von 28 Jahren hat mir gleich ganz undifferenziert Sachen an den Kopp geknallt.“ Was genau ihn traf, sagt er nicht. Nur, dass er nie mehr unbedacht erwähnt, wo er herkommt. Reden lassen, Rostock verschweigen, das ist seine „Überlebensstrategie“.

Pitt ist ein schmallippiger Typ mit Vollbart und runder Metallbrille, in dessen Kopf viele Theorien kreisen. Pitt sammelt sie, wie er Modellautos sammelt und die Marinekalender der DDR. Die Theorien erlauben ihm, sein Leben im Westen als Feldversuch zu sehen. Sie erklären, warum Bremen ohnehin kein Ort für ihn ist, warum es genügt, mit den Kollegen „auch mal privat“ ein Wort zu wechseln und sich ansonsten zu sagen: „Ich kann gut damit leben, unglücklich zu sein.“

Zum Beispiel die DDR-Fernsehradius-Hypothese: Bremen konnte nie Ostsender empfangen, erläutert Pitt. Die meisten Bewohner hätten ihr Bild der DDR-Vergangenheit aus der Schule oder dem Westprogramm: „Kennzeichen D und Ähnliches“. Pitt meint, die Botschaft sitzt bis heute: „Aus dem Osten können nur schlimme Menschen herkommen.“

„Pitti hörte sich ziemlich traurig an beim letzten Mal“, sagt Christin Tamm. „Da fehlte irgendwas.“ Seit der neunten Klasse ist ihr Lebensgefährte Matthias Lübcke mit Pitt befreundet. Oft kam Pitt nach der Uni einfach vorbei. „Ich seh ihn noch, wie er unverhofft in der Tür steht.“ Christin lacht. „Der Pitti mit seiner riesigen Aktentasche.“

Geht man an einem Samstagnachmittag die Tschaikowskistraße in Rostock-Reutershagen entlang, sieht zwischen Häuserblocks die Wäsche trocknen, sieht die gepflegten Winterbeete, einen Nachbarn im Gartenhäuschen sitzen, die Häkelgardinen im Treppenhaus und tritt in die Dachwohnung von Christin und Matthias, man findet viel von diesem „irgendwas“, das Pitt in Bremen vermisst. Drei Generationen sitzen auf der Couchgarnitur im Wohnzimmer: Christin und Matthias, seine Mutter Uschi mit Baby Manja-Katharina auf dem Arm, sein Bruder, seine Freunde Thomas und Alex. Selbst gebackener Blechkuchen steht auf dem Tisch, drunter kläfft der Hund, im Fernsehen läuft MTV.

„Eigentlich war es gut, dass Pitt von zu Hause weggekommen ist“, sagt Matthias. Niemand in der Kaffeerunde protestiert. Natürlich sehnt sich Pitt nach Rostock, der Ostsee, dem Strand. Die Freunde kennen das Gefühl, im Westen „der Ossi“ zu sein. Sie kennen den betroffen Blick von Westdeutschen, wenn das Gespräch auf Rostock kommt. „Da denken doch alle: Das war Lichtenhagen.“ Rostock-Lichtenhagen, diese einst brennende Plattenbauhölle, vor der Menschen vor Freude johlten, als die Ausländer flohen.

Die Freunde sagen aber auch: Pitt könnte Spaß haben in Bremen, wenn er ihn suchen würde. Wenn er einer wäre, der abends weggeht, statt daheim Bücher über Schifffahrt zu lesen. „Mein Vater fühlt sich wohl in Bonn“, sagt Matthias. Seit Jahren arbeitet Uschis Exmann im Westen, findet seine Chefs nett und hat „seine Leute, mit denen er einen saufen gehen kann“.

Fit, Florena, Knusperflocken – die Ostprodukte sind für ihn keine Nebensache und auch kein Klischee

Diese neue Rückholagentur, sie interessiert jeden am Kaffeetisch in Reutershagen. Keiner will weg von der Ostsee. Aber alle wissen, es kann auch sie bald treffen. Alex ist im Oktober als IT-Fachmann bei Siemens rausgeflogen. Die Eltern drängen: Ab in den Westen! Uschi, studierte Betriebswirtin, mit 47 seit Sommer arbeitslos, bewirbt sich schon bis nach Hamburg. Matthias sollte für 8,33 Mark brutto Erdbeeren pflücken. Jetzt ist er noch mal Azubi, seine Freundin versorgt das Baby. Thomas bot das Arbeitsamt schon vor Monaten 6.000 Mark, als „Mobilitätsprämie“, wenn er nur verschwände aus Mecklenburg-Vorpommern. Er hat abgelehnt, schult jetzt noch mal um. „Das ist doch paradox“, sagt Uschi. Dem einen Geld bieten, damit er geht. Und gleichzeitig für 268.000 Euro im Jahr eine Agentur gründen, die Arbeitskräfte zurückholen soll. „Da hätten die Thomas doch sagen müssen: Wir zahlen dir 6.000 Mark, damit du bleibst!“

„Paradox, oder?“ Pitt Jansen lässt die Frage offen. Er sitzt vier Zugstunden entfernt an der falschen Küste und braucht keinen Rückholservice, der Heimweh macht. Das hat er genug. Und dann, ein paar Sätze weiter, erwähnt er – so ganz allgemein – „den gewissen psychologischen Wert“, den die Rückholagentur haben könnte: Vielleicht kümmert sich irgendwann jemand. „Du bist kein armer Hund, den man hier einfach raustritt.“

Pitt hofft vor allem, dass die Agentur für ihn einen Job in Rostock findet. Das wäre „mv4pitt“. Denn für das Rostocker Arbeitsamt ist er ein Bremer, die Behörde in Bremen sagt: Sie haben doch Arbeit. Vier E-Mails hat ihm der Absender „mv4you.de“ bisher geschickt. In der ersten stand, dass man seine persönlichen „Wünsche“ in ein Formular auf der Internetseite eintragen soll. Das Formular gab es dort nicht. Die zweite Mail war eine Entschuldigung: „Wir sind dabei, es gerade noch einmal zu überarbeiten.“ Dann passierte vier Wochen nichts.

Die Agentur kämpfte nicht nur mit dem Anmeldebogen, sondern auch mit ihrem Konzept. Viele Bewerber fänden Heimatnachrichten augenblicklich „zweitrangig“ und verlangten Jobs, erklärt Lilli Ullrich, die Projektleiterin: „Das sind so Sachen, die sich erst aktuell entwickeln, wenn man etwas aufbaut.“ In den jüngsten E-Mails wirbt die Rückholagentur deshalb mit „30 bis 40“ offenen Stellen in Mecklenburg-Vorpommern, Angebote aus der Kartei eines privaten Jobvermittlers. Ob davon eines auf Pitt Jansen passt? Lilli Ullrich mag das nicht versprechen. Sie kennt die Offerten auch nicht genau.

„Mein Bremer Exil“, sagt Pitt. Vor dem Fenster ist es dunkel, nur die Preistafel einer Tankstelle leuchtet. Pitt Jansen will aushalten. Noch 365 Abende, 730 Abende, vielleicht auch länger. Aber irgendwann, hofft er, werden alle im Osten plötzlich Arbeitskräfte suchen. Das Wohnzimmer in Rostock-Reutershagen könnte dann längst leer sein.

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