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Zwischen Epos und Protokoll

■ Überleben nach einer Busentführung: Shinji Aoyamas Eureka im 3001

Zwischen leblosen Fingerkuppen und Teerdecke trocknet Blut. In der Ferne steht ein einzelner Bus auf dem Parkplatz. Rechts vorne ragt ein Pferdehintern in das ausladende Cinema-scope. Die Bustür geht auf, ein Mann rennt los, ein tödlicher Schuss fällt, Polizisten wuseln umher. Drinnen hat der Entführer alle Fenster mit Zeitungsseiten abgeklebt. Die Kamera gleitet über Schlagzeilen, im Sessel vorne schwitzt Makoto, der Fahrer. Auf der hintersten Bank sitzen stumm das Mädchen Kozue und ihr Bruder Naoki. Ventilatoren quirlen die schwüle Luft.

Würde Bruce Willis diesen Makoto spielen, dann stolperte er nur wenige Momente später, im kleidsam blutigen Unterhemd versteht sich, aus dem Gefährt, die zwei Kinder im Arm, und übergäbe einem hässlichen Oberbullen lässig den ausgeknockten Amokläufer. Ein Film wäre zu Ende. Shinji Aoyamas Eureka aber fängt hier erst an. Der Busentführer wird von Polizisten erschossen, Makoto hört nicht auf zu Schwitzen, und dem Geschwisterpaar wird für die verbleibenden drei Kinostunden keine einzige Silbe über die Lippen kommen. Wie fühlt sich Überleben an? Welche Rechtfertigung entwaffnet die Frage: Warum ich und nicht ein anderer?

Makoto beantwortet sie auf seine Weise und nimmt eine Auszeit vom Leben. Kommentarlos verlässt er seine Familie. Als er nach zweijähriger Tingelei zurückkehrt, verhehlen die bemühten Begrüßungsformeln der Angehörigen kaum das Misstrauen, das ihm fortan entgegenschlägt. Seine Frau wollte gleich gar nicht mehr auf ihn warten und ist weggezogen. In einem Haus am Stadtrand schlagen derweil Kozue und Naoki die Stunden tot, beginnen und beenden ihre Tage vor dem TV, versinken langsam in Bergen aus Fastfood-Müll. Auch die beiden Kinder verweigern sich einem Leben, das sie in den Abgrund gezogen und danach grundlos wieder ausgespuckt hat. Im Garten hat Kozue vier Grabhügel aufgehäuft: Die Mutter ist schon lange fortgegangen, der Vater hat sich betrunken tot gefahren, Naoki wirkt allenfalls noch interessiert daran, mit dem Klappmesser Blumen zu köpfen. Und sie selbst bleibt sehr lange stehen auf dem Bahnübergang, wenn der Zug schon herankommt.

„Ich bin von Zuhause weggelaufen“, sagt Makoto, als er mit seinem Rucksack vor den Geschwis-tern auf der Veranda steht, bei ihnen einzieht und den Saustall aufräumt. Dass dabei eher er in den Kindern einen Ausweg erhofft, denn sie in ihm, ist dem Mann klar und bildet im Folgenden das Erzählmotiv des Filmes. Ausgerechnet in einem ausgebauten Bus gehen Makato, die Geschwister und ein hinzugestoßener Cousin der beiden auf eine Reise, die ihnen die Scham des Überlebens nehmen soll.

Regisseur Shinji gewährt der kleinen Gruppe dabei so gar nichts von heroischer Schicksalsgemeinschaft. Die braun-weiße Farbigkeit des Films hüllt alles in die Patina verlorener Zeiten. Langgedehnte, schweifende Plansequenzen und brachiale Schärfeverlagerungen lassen beinahe übersehen, dass es Menschen sind, deren Handeln wir begleiten. Narrative Ellipsen durchkreuzen die kausale Schlüssigkeit der Story.

An die Werke Kenji Mizoguchis muss man beim Zuschauen denken, auch dort sind Figuren immer noch etwas anderes als Charaktere, sind darüber hinaus probeweise Stellvertreter bestimmter Lebensmöglichkeiten. Eureka findet eine fragile Balance zwischen diesen Möglichkeiten – als Katharsis-Epos, an dessen Ende Makoto seine beiden Dämonen zum Sprechen gebracht haben wird: die todessüchtige Kozue und Naoki, der die erlittene Gewalt weitergibt. Eureka ist aber auch ein ungerührt fotografiertes Protokoll der vagen und kaum benennbaren Unterschiede zwischen Leben, Überleben und Sterben – in einer Welt, die keine Werte mehr benötigt.

Urs Richter

 täglich, 19 Uhr, 3001

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