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Merkliche Steigerung

Stefan Pucher war zu Gast im Schauspielhaus: „Der Kirschgarten“ und „Drei Schwestern“  ■ Von Annette Stiekele

Etwas Besonderes verbindet Stefan Pucher und Anton Tschechow, eine Nähe im Denken, in der Melancholie, der Desillusioniertheit. Erst führte Pucher im Hamburger Schauspielhaus Die Möwe gekonnt aufs Glatteis. Nun waren als Gastspiel zwei weitere Auseinandersetzungen des „Pop-Regisseurs“ mit dem schwermütigen russischen Arzt der Jahrhundertwende zu sehen: Der Kirschgarten vom Theater Basel, der schon einmal in Hamburg gastierte, und Drei Schwestern vom Schauspielhaus Zürich. Und es war eine merkliche Steigerung zu beobachten.

So zerfleddert wie Die Möwe, so blütenlos steht Der Kirschgarten da. Und mit den Bäumen hat Pucher jede Sentimentalität des Elegischen ausgespart. Beiläufig versammelt sich das Dramenpersonal an der Rampe und redet ins Publikum, eingepfercht in den hermetischen weißen Raum von Katja Wetzel und seine schummrige De-ckenbeleuchtung. Die Darsteller tragen die Pucher-typischen schäbigen 70er Jahre-Klamotten. Die Tragik der verarmten Familie wird spürbar. Es ist nicht mehr die des alten russischen Landadels, sondern des modernen Europäers.

Ähnlich wie in Die Möwe hat Pucher auch hier den Text gut durchgeschüttelt, Nebenfiguren unter den Tisch fallen lassen und spontane Einfälle addiert. So befragt er per Videoeinspielung Passanten in der Baseler Fußgängerzone nach Tschechow und fördert Er-schütterndes zutage. Pucher gelingt mit seiner spielerischen Überhöhung eine sehr zeitgemäße Verbindung aus Depression und Glamour. Niemand bricht bei ihm im Schmerz über den verlorenen Kirschgarten zusammen. Aber beklemmend ist es schon, wenn die Gutsbesitzerin Ljubow (Silvia Fenz) beim Tanz zu leichter Cocktail-musik die traurige Nachricht erhält und für einen Moment den Takt verliert. Irgendwann ist die Gesellschaft zur Abfahrt vom Gut bereit und das Leben vorbei, „als wäre gar nichts gewesen“. Nicht zuletzt hat Pucher hier – stärker als bei Die Möwe – mit Sebastian Blomberg, Silvia Fenz, Albi Klieber oder Bettina Stucky Schauspieler zur Seite, die sein Konzept tragen.

Auch die Drei Schwestern leiden an Überdruss und der Inhaltsleere ihres Lebens. Ihre Bühne ist ein grauer Saal mit abgehängter De-cke, umgeben von einem Rund aus Straßenbahntüren. Endstation russisches Landleben. Duri Bischoff hat die Figuren in eigenartige Cri-cketoutfits gepackt, die Männer in karierte Hosen und Lederhandschuhe, die Frauen in biedere Kleider. „Warum werden wir, kaum dass wir zu leben begonnen haben, so langweilig“, fragt sich Andrej Prozorov, gespielt von dem großartigen Josef Ostendorf. Der ehemals hoffnungsvolle Nachwuchswissenschaftler lebt nun mit seinen drei schönen, aber vom Leben vergessenen Schwestern in der Provinz. Manchmal träumen sie von Arbeit, wie Irina (Ivon Jansen) und Baron Tuzenbach (Sebastian Rudolph), den Irina aus Pflichterfüllung heiraten will. Vor allem aber träumen sie von Moskau – ein Ort aller verlorenen Sehnsüchte. Doch ihr Leben bleibt ein vergebliches Warten auf Bedeutung.

Pucher lässt sein Ensemble hier erneut frontal ins Publikum sprechen, nur im zweiten Akt kommt es zur vorsichtigen Annäherung von Versinin und Mascha auf modrigen Sesseln. Markus Denker zeichnet dazu mit endlosen Wiederholungen von Satie und Scaljapin traurige Stimmungsbilder auf dem Piano. Später stimmen alle mit John Denver ein „I'm Leaving On A Jet Plane“ an. Wirklich pointiert gelingt Pucher diesmal der multimediale Einsatz. Auf den Vorhang projiziert geben die Figuren ein schonungsloses Bild ihrer Misere.

Nach der Pause kauert das Personal in Unterwäsche im Dunkeln am Boden. Dafür kommen Wahrheiten ans Licht. Mascha (Sylvana Krappatsch), die in einer elenden Ehe mit dem langweiligen Lehrer Kulygin (Oliver Mallison) dahindämmert, bekennt sich zu ihrer Liebe zum Obersten Versinin (André Jung). Derweil irrt Andrejs hemmungslose Braut Natalja (Bettina Stucky) vor den Türen mit einer gespenstischen Kerze umher. Am Ende bricht die Bühne auf, verloren ist der Besitz durch die Spielschulden von Andrej, die Bewohner tragen Trauer und stehen starr. Der letzte Traum von Moskau zerbricht für Irina, deren Verlobter im Duell fällt. Die Zukunft ist endgültig verbaut.

Pucher entzaubert in den Figuren heutige Menschen mit all ihrer Selbstbezogenheit. Trotz der Verkürzungen leuchtet er Psyche und Weltschmerz der Figuren genau aus. Bei den Drei Schwestern ist Pucher sicherlich am wenigsten bunt, dafür melancholisch, leise und konzentriert. Da ist er endgültig bei Tschechow angekommen.

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