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„Ditmal strikt wi för wat anneres“

Gegen die „brutale, protzenhafte Infamie der Unternehmer“: Vor 105 Jahren ging nach elf Wochen einer der größten Streiks im Hamburger Hafen zu Ende  ■ Von Bernhard Röhl

„Mann der Arbeit, aufgewacht! Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“, schrieb 1863 der Dichter Ferdinand Freiligrath in seinem Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein. Dem Appell der „eisernen Lerche“ – wie der Dichter genannt wurde – folgten am 20. November 1896 die Arbeiter im Hamburger Hafen: Auf einer Massenversammlung beschlossen die Schauerleute einen Streik, der mit einer Dauer von elf Wochen und über 16.000 Streikenden einer der größten in der Geschichte der Hansestadt werden sollte.

Hintergrund waren die miserablen Arbeitsbedingungen und Löhne der Hafenarbeiter sowie eine sich stetig verschlechternde Wohnsituation. 1896 bekamen die Arbeiter lediglich zwischen zwei und fünf Mark am Tag, dafür mussten sie bis zu elfeinhalb Stunden schuften – ohne Pause. Maschinisten arbeiteten sogar bis zu 14 Stunden. Schauerleute fanden oft nur unregelmäßig Beschäftigung, abhängig von den Schiffsankünften. Auf diese Weise wurden sie oft 24, 36, 48 oder gar 72 Stunden hindurch ausgebeutet, für den Profit von HAPAG, Laeisz, Rickmers, Sloman und anderen Reedern. Die Löhne waren seit 1890 nicht mehr erhöht worden. Unter menschenunwürdigen und gesundheitsgefährdenden Bedingungen mussten die 400 Kesselreiniger die Innenwände der Dampfer säubern: Noch wenn das Innere der Kessel unerträglich heiß war, mussten sie hineinkriechen und im Liegen den Dreck abkratzen.

Hinzu kam eine prekäre Wohnsituation. Der Bau und später die Erweiterung der Speicherstadt hatten zwischen 1885 und 1888 über 20.000 Einwohner von der Kehrwiederspitze und anderen Hafengebieten vertrieben. Die Mieten in Hafennähe stiegen in die Höhe, die Entvölkerung der Innenstadt begann. Hafenarbeiter und ihre Familien muss-ten in entferntere Stadtteile umziehen, in Mietskasernen in Hammerbrook – auch Jammerbrook genannt – Barmbek, Horn, Billwerder, Rothenburgsort und auf die Veddel. Der Weg zur Arbeit erhöhte sich auf eine bis eineinhalb Stunden. Zur gleichen Zeit residierten die Hafenunternehmer in Luxusvillen.

All dies trug dazu bei, dass der Hafen das unruhigste Arbeitsgebiet im Hamburger Raum war: Anfang 1896 hatte der Hafenarbeiterverband 4300 Mitglieder. Der Streikbeschluss der Schauerleute wurde allerdings überwiegend von nicht-organisierten Arbeitern getragen – und griff rasch auf andere Arbeitsbereiche über. Anfang Dezember hatten die Speicherarbeiter, Maschinisten, Ewerführer und Schiffsreiniger ebenfalls ihre Arbeit niedergelegt, fast 12.000 befanden sich im Streik. Die Führungen der Gewerkschaften und der SPD waren von dieser Entschlossenheit völlig überrascht.

Und bei dem Streik ging es nicht nur um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. So meinte ein Arbeiter auf den Einwand, der Streik führe doch zu Einkommensverlusten für die Streikenden: „Dat weet wir allens, ab ditmal strikt wi nicht för dat Geld, ditmal strikt wi för ganz wat anneres“, berichtet der Hamburgische Correspondent in seiner Ausgabe vom 6. Dezember 1896. Das fürchteten wohl auch die Hafenunternehmer: Sie lehnten ein Schiedsverfahren ab, weil sie in dem Streik einen „Machtstreit“ sahen. Konzessionen an die Streikenden würden „für alle Folgezeit den internationalen Aufreizungen unserer Arbeiter Tür und Tor öffnen“.

Auf das „frivole Wort vom Machtstreit“ lautete die Antwort der Arbeiter in einem Flugblatt, es handele sich um den „Ausdruck der denkbar brutalsten, protzenhaften Infamie“ der Unternehmer. Vor die Entscheidung gestellt zwischen Kapitulation oder „Krieg bis zum Äußersten“, proklamierten die Streikenden nun den Generalstreik aller Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg. Mitte Dezember waren 16.458 Arbeiter im Ausstand.

Die verschiedenen Beschäftigtengruppen wählten Kommissionen, die das zentrale Streikkomitee mit rund 70 Mitgliedern bildeten. Dieses bestimmte wiederum die fünfköpfige Streikleitung. Jeder Streikende erhielt eine Karte, die täglich abgestempelt wurde. Streikposten zogen auf, alle zwei Tage fanden Versammlungen statt. Das Gewerkschaftskartell erkannte den Streik an und wollte ihn „in jeder Weise unterstützen“. An die anderen Gewerkschaften erging die Aufforderung, ebenfalls Gelder bereitzustellen.

Die wurden gebraucht: Ledige Streikende erhielten wöchentlich acht Mark Unterstützung, Verheiratete neun Mark und für jedes Kind eine Mark. Lebensmittelhändler aus dem Hafen beschlossen während einer öffentlichen Versammlung, die Streikenden zu unterstützen. Sogar „gut situierte Bürger“ halfen den notleidenden Arbeiterfamilien. Der Senat sah sich schließlich genötigt, Haussammlungen für die Streikenden zu verbieten.

In jenen Tagen besuchte Kaiser Wilhelm II den Kommandierenden General des IX. Armeekorps in Altona, Graf Waldersee. Der Monarch verlangte ein „energisches Einschreiten“ gegen seine Untertanen und forderte den General auf: „Fassen Sie nur ordentlich zu, auch ohne anzufragen!“ Auch die Reeder bestärkte der Kaiser in ihrer harten Haltung und riet, es könnten Streikbrecher „aus den polnischen Landesteilen und von Italien genug hingeschafft werden“.

Als sich das Weihnachtsfest näherte, fürchtete die Streikleitung, die Feiertage könnten die Entschlossenheit der Streikenden beeinträchtigen. Am 16. Dezember 1896 bat sie deshalb den Senat formell um Vermittlung. Dieser ermahnte zwei Tage darauf die Arbeiter an ihre „Pflicht“, die Beschäftigung wieder aufzunehmen. Obwohl diese Erklärung keinerlei Zusagen an die Arbeiter machte, stimmten die Streikkommissionen nach einer langen Nachtsitzung mit knapper Mehrheit dem Ansinnen des Senates zu. Sie fürchteten auch eine „gewaltsame Niederschlagung und Auseinandersprengung“ durch die Polizei.

Die Arbeiter aber lehnten in fünf Massenversammlung das Senatsdiktat mit 7265 zu 3671 Stimmen ab: Die Weihnachtstage und der Jahreswechsel hatten die Entschlossenheit nicht brechen können. Am 12. Januar 1897 wurde über das gesamte Hafengebiet der „kleine Belagerungszustand“ verhängt. Die Streikenden durften das Gelände nicht mehr betreten. Die Polizei nahm Arbeiter fest, wegen angeblicher Übergriffe gegen Streikbrecher ergingen Strafanzeigen, Streikgelder wurden beschlagnahmt – obwohl auch die Staatsanwaltschaft Bedenken erhob.

Mitte Januar bekamen die Streikenden Hilfe vom Wetter. Nach anhaltendem Frost warnte die Polizei vor einem Temperaturumschwung. Dann nämlich sei „ein außerordentlich großer Zuwachs von eintreffenden Schiffen zu erwarten und damit eine Verschiebung der Gesamtlage zugunsten der Streikenden nicht ausgeschlossen“. Nach ergebnislosen Verhandlungen mit den Unternehmern am 16. Januar 1897 in der Handelskammer appellierten liberale Politiker wie Friedrich Naumann, die Hafenarbeiter mit einer „energischen Gabe“ zu unterstützen, um sie vor einer „bedingungslosen Unterwerfung“ zu bewahren. Das brachte Geld in die Streikkasse, die Unternehmer waren empört.

Doch trotz dieser Solidarität sah sich die Streikleitung am 21. Januar gezwungen, die Unterstützung auf drei Mark wöchentlich zu verringern. Am 6. Februar dauerte der Streik bereits elf Wochen, 16.690 Arbeiter mussten unterstützt werden. Erschöpft vom langen Kampf stimmten an diesem Tag 66 Prozent der Streikenden für ein Ende des Arbeitskampfes.

Der Unternehmerverband brach in ein Triumphgeheul aus. In einer Erklärung behauptete die Organisation, der Streik sei „ein Vorstoß der internationalen Sozialdemokratie gegen das Unternehmertum“ gewesen. Die Unternehmer hätten deshalb „die bürgerliche Ordnung, auf der das Wohl und Wehe all' unsere Mitbürger ruht“ verteidigen müssen. Die Hafengewaltigen gedachten ihre Macht nun voll auszukosten: Lediglich eine kleine Zahl der Arbeiter erhielt zunächst wieder eine Beschäftigung, viele Firmen zahlten geringere Löhne als vor dem Streik. Über 500 Arbeiter wurden angeklagt wegen angeblicher Bedrohung, Aufruhr, Ehrverletzung oder Misshandlung. 126 Männer wurden zu insgesamt 28 Jahren Gefängnis verurteilt, 227 erhielten Geldstrafen.

Trotz der Repression blieb der Hafen unruhig, bis 1914 kam es zu fast 200 Arbeitsniederlegungen oder Aussperrungen, meist ohne Unterstützung der Gewerkschaften. Dabei gelang es den Hafenarbeitern in kleinem Umfang, Verbesserungen durchzusetzen. Im Jahre 1907 begann die Schichtarbeit, 1912 wurde ein „Normalarbeitstag“ von neun Stunden vereinbart, der allerdings von den Unternehmern immer wieder ausgedehnt wurde. Die Lohnsteigerungen blieben hinter dem Anstieg der Lebenshaltungskosten zurück.

1929 erfuhr der große Hafenarbeiterstreik noch einmal eine Würdigung: Werner Hochbaum drehte darüber den Spielfilm „Brüder“, in dem auch einstige Streikende als Laienschauspieler mitwirkten. Finanziert wurde das Projekt von der Hafenarbeitergewerkschaft. Eine Kopie des Films befindet sich heute im Hamburger Landesmedienzentrum.

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