Trostlos ins Glück

Das ganz normale Emotionsmonster und die popistische Zuspitzung: Klaus Weise inszeniert in Oberhausen Sibylle Bergs neues Stück „Herr Mautz“

von MORTEN KANTSTEINER

Als Helge den Tod nahen fühlte, äußerte er einige verzweifelte Wünsche. Der Held aus „Helges Leben“, dem ersten Theaterstück von Sibylle Berg, wollte noch einmal Schnee sehen und das Meer, einmal nach Asien reisen. Aber Helge durfte nicht, musste sterben.

Zum Ausgleich lässt Berg jetzt, drei Stücke weiter, einen anderen verreisen – sie meint es ja gut mit ihren Figuren. Herr Mautz heißt der Titelheld ihres neuen Textes, und er setzt sich ins Flugzeug, nachdem der Eintritt in den Ruhestand ihm den Lebensinhalt entzogen hat. Doch siehe da: Die Reise nach Asien ändert wenig. Sie bleiben alle bestehen, jene Grundübel der menschlichen Existenz, auf die Sybille Berg in ihren Texten mit der Insistenz einer philosophischen Flugbegleiterin hinweist: Vor sich sehen sie ihre Sterblichkeit, Angst und Sinnzweifel befinden sich griffbereit unter ihren Sitzen.

Auch Herr Mautz muss sterben, die Malaria will es so. Ein Privileg genießt er immerhin: Ein Erzähler und drei Kakerlaken besuchen ihn in seinem Hotelzimmer. Sie bringen ihm eine Maschine, mit der er einen Augenblick seines Lebens für die Ewigkeit nach seinem Ableben einfrieren kann. Also kramt Herr Mautz in seinen Erinnerungen, auf der Suche nach dem geeigneten Moment. Das Leben, das dabei zum Vorschein kommt, hat Sibylle Berg schon anderswo skizziert, in dem kurzen Prosatext „Experiment“. Es ist von dem Projekt bestimmt, alle Gefühle zu erforschen: „Wer seine Gefühle nicht benennen kann, versteht nicht, sie zu beherrschen.“

Herr Mautz habe es dabei weit gebracht, erklärt der Erzähler: „Die meisten Männer versuchen, was er geleistet hat, mit weitaus geringerem Erfolg.“ Von seinen Eltern hat sich Herr Mautz schon früh auf Nimmerwiedersehen abgewandt. Seinen einzigen potenziellen Freund hat er nach wenigen Begegnungen in die Wüste geschickt. Einmal hat er eine Beziehung zu einer unscheinbaren jungen Frau hergestellt. Aber auch sie hat er wieder aus seinem Leben verbannt, sobald er einen Eindruck gewonnen hat, was die Liebe sein könnte. Ein richtiges Emotionsmonster ist dieser Mautz. Und doch sind in seinen Grausamkeiten die Züge des Normalos zu erkennen. Seine Angst vor Verletzungen kommt einem gleich bekannt vor. Von Techniken der Zuspitzung – wenn man so will: von Pop – versteht Sibylle Berg doch eine ganze Menge.

Den passenden Körper bekommt ihre jüngste Zuspitzung von Rolf Mautz, Schauspieler am Theater Oberhausen. Die Autorin hat die Figur speziell für ihn zusammengebastelt. Bei der Uraufführung tritt er mit einer Unscheinbarkeit auf, hinter der man gleich eine Durchschnittsexistenz vermutet. Aber beim Reden überkommt ihn im Nacken eine ganz gemeine Steifheit, und er doziert derart mit seiner schlaff geschlossenen Hand, dass man ihm den Gefühlsterrorismus doch zutraut.

Schwierigkeiten hat die Inszenierung des Oberhausener Intendanten Klaus Weise mit dem lakonischen Humor des Textes. Oft bremst das Bühnengeschehen den lockeren, schnellen Rhythmus der Vorlage mit überflüssigen Einlagen. Die trockenen Kommentare des Erzählers weicht Mohammad-Ali Behboudi mit einem Märchen-Schmunzel-Ton auf, bis nur lappige Banalitäten bleiben.

Mitunter allerdings kommt doch ein lässiger Ton zustande, wie er dem Text entspricht. Etwa wenn Juan Manuel Torres y Soria über seine Rolle als missmutige Kakerlake die Rolle als Mautz' Sohn stapelt. Während er noch die Insektenmaske trägt – Fühler und Kunstglatze bis über die Ohren –, spielt er den Spross des Helden gleich in mehreren Lebensstadien. Er schwenkt die Arme wie ein Baby auf der Love Parade, wechselt zwischen Schnuller und Zigarette.

So reproduziert er die ironische Distanz, die Sibylle Berg auf der Textebene durch ihren kühlen, leicht gespreizten Ton herstellt. Diese Brechung darf nicht fehlen: Sie schützt die Figuren vor dem Klischee. Und sie puffert die geballte Trostlosigkeit ab, die Erbärmlichkeit des Helden, der in seinem Leben keinen wirklich gelungenen Augenblick finden kann. Das Beste, was er in der Retrospektive entdeckt, sind seine ersten Eindrücke von Asien: „Ich kam an, nahm mir ein hässliches Zimmer und ging von da an jeden Morgen über die Straße, saß in einem Café am Straßenrand und habe gewartet, dass ein Wunder geschieht.“

Immerhin diesen Augenblick hat Herr Mautz seinem Vorgänger Helge voraus. Das große Glück ist ihm zwar nicht zugestoßen, aber zumindest eine Hoffnung.