: Ideen aus der Abraumhalde
Wie Telefonnummern in Musik übersetzt werden. Oder ein Stern im Duett mit Mondsicheln: Christian Marclay präsentierte in der Neuen Nationalgalerie im Rahmen des MärzMusik-Festivals seine „Graffiti Composition“
Den Zufall ordnen? Jeden einen Künstler sein lassen? Kommunikationsstrukturen sichern und sie gleichzeitig in ein anderes System überführen? Ja, all das findet sich in der „Graffiti Composition“. Und noch einige Stückchen mehr. Tja, und auch eine ganze Menge weniger. Musikalisch gesprochen. Die Versuchsanordnung klang allerdings bezaubernd: Musik zu machen aus Fundstücken. Das waren die Notenblätter, mit denen Berlin im Sommer 1996 tapeziert war. Freundliche Einladungen an die Öffentlichkeit, sich darauf zu verewigen. Manche nutzten die Lineatur tatsächlich für kurze musikalische Entwürfe, selbst wenn es nur der Auftakt zu „Hänschen klein“ war. Andere sprenkelten einfach was aufs Blatt. Botschaften. Telefonnummern. Oder einen Stern im Duett mit Mondsicheln. Stellt sich die Frage, wie das nun zu spielen ist?
Ausgedacht hat sich die Aktion Christian Marclay, der mit seiner Kunst immer an der Schnittstelle zur Musik operiert. In Berlin erinnert man sich vielleicht noch an seine Installation in der „Gelben Musik“: den Raum ausgelegt mit Schallplatten. Oder an seinen „Berlin Mix“ 1993 als riesenhaftes Simultankonzert in einem Straßenbahndepot. Für die „Graffiti Composition“ sicherte er fotografisch die bekritzelten Notenblätter, wählte daraus 150 Blätter als Partituren aus, aus denen dann die Musiker wiederum eine eigene Auslese treffen durften. Die war nach Gutdünken frei zu kombinieren. Die grafischen Notationen nach Gutdünken frei zu interpretieren. Wie spielt man also eine Mondsichel? Eben. Man macht daraus, was man will.
Weniger das, was bei der Uraufführung der „Graffiti Composition“ am Montag in der Neuen Nationalgalerie – im Rahmen des MärzMusik-Festivals – auf den Notenpulten lag, war also die Komposition, sondern das Setting selbst. Am besten betrachtete man Marclays Arbeit als eine große Rollenspielskulptur, für die er von ausgewählten Darstellern genau das nachspielen ließ, was sie auch in ihrem sonstigen Leben sind: exquisite Improvisationsmusiker. Konsequenterweise waren das in der Neuen Nationalgalerie die zur Theatralik neigenden Vertreter der Zunft. Wie Anthony Coleman. Der ging gleich vom Start weg in die Vollen. Clusterte furiose Läufe auf die Klaviertasten und ließ sie in zart hingehauchten Einzeltönen auspendeln. Ein Rollenspieler. Er war der Stürmische und machte in versiertem Plauderton. Er tändelte. Stolperte Kinderliedhaftes zusammen. Das warf auf dem Weg reichlich pianistische Leckerbissen ab und addierte sich doch nie zu einem Ganzen. Blieb Bruchwerk. Ein nettes Förmchenset aus Versatzstücken. Fürs Auge wurden dabei die Regeln der Versuchsanordnung gewissenhaft eingehalten. Brav blätterte ein Adjutant in Colemans Partituren. Wenn schon Spiel, dann in gespielter Ernsthaftigkeit. Auch wenn der hilfreiche Geist selten wusste, wann Coleman denn die einzelnen Blätter zu Ende gespielt hatte.
Shelley Hirsch kam mit auf die Bühne und warf weitere Ideen in die Abraumhalde. Wortfetzen diesmal. Eingesungene Textbrocken. Natürlich in virtuoser Stimmtechnik. Einzig gliedernde Struktur blieb allerdings, dass von Zeit zu Zeit die Stimmung gewechselt wurde. Beliebigkeiten. Weiter wurden theatralisch die Notenblätter dieser „Graffiti Composition“ sortiert. Auch die Musiker des Ensembles Zeitkratzer hatten solche Partituren vor sich liegen. Doch eigentlich schauten sie immer nur aufmerksam auf die Winke von Butch Morris, der die Gruppierung straff durch den Improvisationsparcours führte.
Ein Schnittbogen auch hier. Gewissenhaft waren die Soundvorstellungen der Neuen Musik darauf vermerkt. Weil aber Butch Morris der eh nur scheinbaren Freiheit tüchtig die Fingernägel stutzte und umsichtig auf konzertierte Aktionen setzte, hörte man plötzlich doch Musik, die sich plausibel aus sich selbst schöpfte. Verbindungen wurden deutlich gemacht. Spannung geschickt akzentuiert. Weil hier ein Trainer eigenmächtig genug die Besetzungsfragen, Spieltaktik und dynamischen Prozesse vorgab, ohne sich groß um die grafischen Entwürfe von Marclays Partituren zu kümmern.
Das sicherte für den Abend immerhin ein Unentschieden. Und wer sein eigenes Liedchen zur Partitur der „Graffiti Composition“ pfeifen möchte: Bis 27. April sind die Blätter bei der „Gelben Musik“ in der Schaperstraße 11 zu sehen.
THOMAS MAUCH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen