: Die Dauerlüge
Die Entwicklungshilfe für arme Länder muss auf eine neue Basis gestellt werden. Die Konferenz in Monterrey bietet eine Gelegenheit, sich von illusorischen Zielen zu trennen
„Ich bin dreißig, helfen Sie mir über die Straße“, ist unter den dummen Sprüchen einer der blödesten. Doch es gibt einen Fall, in dem eine solche Häme angebracht ist: das 0,7-Prozent-Ziel. Knapp über dreißig und dabei schon uralt nämlich ist die Beteuerung der reichen Länder, sie wollten 0,7 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Entwicklungshilfe ausgeben. Zeitweise war es schamhaft still um diese Dauerlüge. Es schien, als könne kein Politiker mehr davon reden, ohne rot zu werden.
Leider falsch. Drei Ereignisse haben ihr zu neuer Konjunktur verholfen: der Millenniumgipfel im Herbst 2000 in New York, auf dem Bundeskanzler Schröder seinen Einsatz gegen die Armut dieser Welt verkündete. Der 11. September, in dessen Folge keine Rede verstrich, ohne dass die Bedeutung der Entwicklungshilfe beschworen wurde. Und nun die Konferenz im mexikanischen Monterrey, die sich vom 18. bis zum 22. März mit der Finanzierung von Entwicklungshilfe beschäftigt. Gewiss: Fordern kann man immer. Aber irgendwann kommt ein Punkt, an dem die Glaubwürdigkeit aufhört. In den Neunzigerjahren sank der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttoinlandsprodukt der Industrieländer von durchschnittlich 0,35 Prozent auf 0,22 Prozent – in absoluten Zahlen von gut 58 Milliarden Dollar jährlich auf 53 Milliarden Dollar.
In Deutschland war dieser Rückgang keineswegs nur dem Desinteresse der Konservativen an dem Thema zuzuschreiben. Unter Rot-Grün setzte sich der Trend gegen alle Versprechungen und zur großen Enttäuschung vieler ehemals auf Rot-Grün setzender Entwicklungsverbände fort. Und bei der momentanen Finanzlage in Deutschland ist es absurd, zu glauben, die Entwicklungshilfe würde in absehbarer Zeit mehr als verdoppelt. Der letzte Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit lag bei etwa 3,5 Milliarden Euro – das ist fast so viel, wie Finanzminister Hans Eichel nächstes Jahr in seinem Haushalt einsparen muss. Und entspricht andererseits doch nur der Summe, die Verteidigungsminister Rudolf Scharping für den Bau der Militär-Airbusse ausgeben will.
Deshalb ist es an der Zeit, sich vom 0,7-Prozent-Ziel zu verabschieden. Statt weiter so sehr auf die klassische Hilfe zu setzen, die einen Teil des Steueraufkommens aus reichen Ländern in die armen verteilt, sollte die Entwicklungszusammenarbeit auf fünf Säulen basieren. Neben der staatlichen Hilfe sind das Zollsenkungen für Produkte aus solchen Ländern – denn Exporte bringen Devisen. Darüber hinaus müssen Schulden erlassen werden und Länder die Möglichkeit haben, sich für zahlungsunfähig zu erklären. So sparen sie Milliarden, die sie sonst für Zinsen und Tilgungen ausgeben müssten. Ferner sollte ein internationales Steuersystem errichtet werden, aus dessen Einnahmen Entwicklung finanziert wird. Und schließlich müssen die Geberländer privates Kapital stärker für ihre Ziele einbinden.
Keine dieser Säulen führt per se zu Entwicklung. Denn wichtiger als Geld sind die Verhältnisse im Empfängerland: Wie ist Besitz, wie ist Macht, wie sind die Einkommen verteilt?
Zu Recht verlangen die Gläubigerländer bereits heute von den Schuldnerländern, dass das Geld, das sie durch Entschuldung einsparen, in die Bekämpfung der Armut investiert wird. Auch die Öffnung der EU- und US-Märkte für Waren aus den Entwicklungsländern hilft nicht automatisch. Zwar bringen Exporte Devisen und Arbeitsplätze. Doch die große Masse der armen Bevölkerung hat nur dann Teil am Segen, wenn im Land Umverteilungsmechanismen bestehen. In vielen Schwellen- und Entwicklungsländern zahlen Reiche kaum an den Fiskus – wenn überhaupt Einkommen- und Unternehmenssteuern bestehen, die nicht durch Schlupflöcher oder Korruption umgangen werden. In der Regel kassiert der Staat lieber direkt, etwa über die Mehrwertsteuer. So lässt sich nur durch Umverteilung Armut mit Freihandel bekämpfen.
Eine weitere Quelle zur Finanzierung von Entwicklung sind weltweit gültige Steuern. Viele Entwicklungsverbände und seit Neuestem auch PolitikerInnen wie Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul denken hier vor allem an eine Steuer auf Devisenumsätze, etwa die Tobin-Tax auf grenzüberschreitende Devisengeschäfte. Im Gespräch ist auch die Besteuerung von Kohlendioxid oder Kerosin. Solche globalen Steuern müssten idealerweise an eine internationale Organisation abgeführt werden, etwa an die UNO oder an eine eigens geschaffene internationale Steuerbehörde. Die könnte damit einen Fonds einrichten, aus dem Entwicklungsländer Geld erhalten.
Allerdings müssten die Länder bestimmte Bedingungen, etwa eine Steuerreform, erfüllen, um Geld aus dem UN-Topf zu erhalten. Dies ist zwar eine umstrittene Forderung, denn viele sehen in ihr die Bevormundung der Dritten Welt durch die reichen Länder. Und doch ist sie zwingend notwendig, weil „die armen Länder“ sonst aus ihrer Eigenverantwortung entlassen werden. Nicht alle Gründe für die Armut in vielen Regionen kommen von außen. Die ungerechte Verteilung zwischen Protzvierteln einerseits und Slums andererseits ist eben zum gut Teil auch hausgemacht.
Eine lukrative Quelle ist privates Kapital, für viele NGOs und „klassische“ staatsvertrauende Entwicklungshelfer zunächst einmal ein Tabuthema. Ihr Argument: Privates Kapital sucht Rendite, nicht Verbesserung im Gesundheitssystem oder Bildung. Doch die Zahlen sprechen für sich: Während die öffentlichen Gelder abnahmen, vervierfachten sich die ausländischen Direktinvestitionen in Nichtindustrieländer in den Neunzigerjahren auf 120 Milliarden Dollar. Allerdings floss dieses Kapital zu 80 Prozent in zehn Schwellenländer; die ärmsten Länder bleiben bisher außen vor. Zwar könnten die Industrieländer, Ausgangsort der Direktinvestitionen, Anreize für Unternehmen schaffen, in Armutsregionen sinnvoll zu investieren. Doch stößt die Entwicklungszusammenarbeit hier an ihre Grenzen. Denn dazu gehören wiederum Mindeststandards wie rechtliche Sicherheit – und die ist, alle Praxiserfahrungen zeigen das, von Entwicklungshelfern nur sehr mühsam zu beeinflussen.
Monterrey sollte dazu genutzt werden, der hehren 0,7-Prozent-Hürde den Rücken zu kehren (außer in Dänemark, Norwegen, Schweden und den Niederlanden natürlich, die die Hürde überwunden haben). Und der Tatsache ins Auge zu blicken: Der Privatsektor hat immer mehr Einfluss – also muss er stärker noch als bisher ins Boot geholt werden. Aufgabe der Staaten muss es sein, das private Kapital zu regulieren: im Kleinen über so genannte öffentlich-private Partnerschaften (PPP), die sich als Anreize für entwicklungspolitisch sinnvolle Investitionen bewährt haben. Im Großen muss dies eine internationale Steuerbehörde tun. Sonst zeigt sich in Monterrey einmal mehr: Das 0,7-Prozent-Ziel wird immer dann hochgehalten, wenn sich die Politiker um konkrete Zusagen drücken wollen.
KATHARINA KOUFEN
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