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Festgezurrte Vergänglichkeit

■ Suche nach der letzten utopischen Gemeinschaft: Ross Sinclairs Installation „Journey to the Edge of the World – The New Republic of St. Kilda“ in der Kunsthalle

Die Einladung ist verführerisch, das Netz engmaschig: Leicht und bequem kann, wer dafür anfällig ist, dem Sog erliegen, der von Ross Sinclairs Werk Journey to the Edge of the World – The New Republic of St. Kilda, 1999/2002 ausgeht, das, jüngst mit den Baloise-Preis geehrt, der Kunsthalle geschenkt wurde. Präsentiert wird es in der Galerie der Gegenwart

Worin die Versuchung besteht? Darin, das zu tun, was die aus 900 Kartons bestehende, an eine Grabkammer erinnernde Installation suggeriert: sich intensiv mit der Historie der Inselgruppe St. Kilda, westlich der schottischen Hebriden gelegen, zu befassen. Zu erforschen und zu hinterfragen, was es mit jener Gemeinschaft auf sich hatte, die dort über 1000 Jahre lang fern aller übrigen Zivilisation lebte. Die keinen Gott, kein Geld, keine Kriege kannte, sondern nur ein täglich tagendes Inselparlament, das den Alltag regelte.

Ein nordwestliches Arkadien also, das erst durch den im 19. Jahrhundert beginnenden Tourismus erschüttert, von Krankheiten durchseucht und schließlich derart destabilisiert wurde, dass die verbleibenden Bewohner 1930 um ihre Evakuierung baten.

Wenig ist bekannt über das Leben der St. Kildaner. Karge Bausteine liefert auch der 1966 geborene schottische Künstler Ross Sin-clair, der seit 1994 an dem Projekt Real life arbeitet, dessen Teil die Installation ist.

Zu sehen sind – in verschiedenen Nischen der deckenhohen Kistenkonstrukton – zum Beispiel Filmaufnahmen der Evakuierung. Dazu Dias, die inselhistorische Daten mit weltgeschichtlichen konfrontieren. Satzfetzen wie „no gods“ und „no money“ zieren die Pappkartons, die an Kinderbaukästen erinnern sollen, aber nicht so ephemer sind, wie sie vorgeben. Denn natürlich wurden sie per Festzurrung gegen Absturz gesichert – ein Prozedere, das genau die Crux offenbart, auf die Sinclairs Werk verweist: auf die Fülle von Wort- und Ideologiebausteinen, mit denen man jegliche Lücke füllt, damit bloß keine Fuge im Gedankengebäude bleibt. Da wäre es konsequent gewesen, den Kartonturm – analog manchem Ideologiegebäude – in sich zusammenfallen zu lassen.

Allein – die reale Kunsthallen-Umgebung, integraler Teil des Kunstwerks und Partikel aktueller Realwelt, hat's verhindert: Zu wichtig war die Sicherheit der Besucher, zu riskant, dass jemand tatsächlich eine Kiste herausreißen und jene Destabilisierung erzeugen könnte, auf die Sinclair abzielt. Zu unangenehm war die Vorstellung, dass sich die Installation tatsächlich als das Provisorium erweisen könnte, für das sie steht. Nein, da hat man lieber die Sicherheit einer nur scheinbar ephemeren Höhle gewählt und das Publikum mit rudimentären Informationen gefüttert, zu denen auch eine spiegelverkehrt beschriftete Landkarte zählt.

„Wir können nichts wissen“, hätte der alte Diogenes hier vielleicht gesagt und sich an dem Informationsdefizit gefreut. Doch der auf Vollständigkeit trainierte Modernmensch freut sich nicht. Er ist beunruhigt, weil er diese Utopie nicht ergründen kann. Und möbliert sein Hirn mit Vorstellungen darüber, wie die Vergangenheit gewesen sein könnte. Sinnt darüber nach, dass man die Zeit – der Evakuierungsfilm läuft rückwärts, ebenso eine vom Künstler intonierte Volksweise vom Band – auch andersherum deuten könnnte. Und dass die St. Kildaner genauso gut uns angucken könnten, wie wir sie. Dass sie auf dem Zeitrad eventuell weiter fortgeschritten sind als wir. Interessante Gedankenspiele, natürlich. Bewegend wie die alte Frage, was Realität ist und ob wir irgendeine Chance des Zugangs zu ihr haben.

Aber könnte man nicht auch einfach die Beunruhigung über das Informationsleck in puncto St. Kilda ertragen lernen? Und, sozusagen, einen neuen Respekt vor dem Vakuum entwickeln? Petra Schellen

Di–So, 10–18 Uhr, Do bis 21 Uhr; Kunsthalle, Galerie der Gegenwart; mindestens bis Ende dieses Jahres

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