kommentar: Die Grünen – Partei des etwas aufgeschlosseneren Bürgertums
Die Grünen sind eine Partei, vor der niemand mehr warnen muss. Die Eltern nicht ihre Kinder, Hans-Olaf Henkel nicht seine Unternehmer. Am Wochenende gaben sich die Grünen nach 22 Jahren ein neues Grundsatzprogramm – ohne viel Federlesen oder Grundsatzdebatten. Ein Programm, das so fest in der Mitte der Gesellschaft verankert ist, dass zwischen die Grünen und die Parteien dieser Mitte kaum noch ein Blatt passt. Keine linke Kante, die mehr stört. Die Grünen – eine Partei wie alle anderen.
Es war kein Parteitag der beeindruckenden Zukunftsvisionen, sondern der nachholenden Erneuerung. Die Abkehr von Pazifismus und Basisdemokratie, die Tilgung jeder Spur von programmatischem Antikapitalismus, die Nähe zu neoliberalen Positionen in der Sozialpolitik: all das sind keine Überraschungen, sondern langjährige Entwicklungen, die mit Verabschiedung des neuen Programms nun endlich amtlich werden.
Nun weiß auch der letzte Zweifler, woran er bei den Grünen ist. Sicher, trotz aller Systemkonformität ist die Partei noch lange keine CDU oder SPD. Sie bleibt freundlicher zu Ausländern, aufmerksamer gegenüber Frauen, offener gegenüber Homosexuellen – postmoderner eben. Aber in den meisten Bereichen sind die Grünen inzwischen wie alle anderen auch. Deshalb ist die Kanzlerkandidatur Edmund Stoibers für die Grünen auch so wichtig. Denn in Abgrenzung von Guido Westerwelle, Angela Merkel oder Gerhard Schröder kann es der gereiften grünen Partei nicht gelingen, ein eigenständiges, scharfes Profil zu zeigen. Dazu bedarf es heute schon eines strammen Konservativen aus Bayern.
Mit der Verabschiedung des neuen Grundsatzprogramms ist nun links der Grünen ganz offiziell sehr viel Platz. Er kann ungestört vom gewerkschaftlich orientierten Arbeitnehmerflügel der CDU, von SPD und PDS beackert werden. Da kann es auch nicht verwundern, dass die linke Gemeinde in Berlin-Kreuzberg, wo der Parteitag stattfand, am Wochenende lediglich demonstrierte, dass sie keine Wünsche mehr an die Partei des etwas aufgeschlosseneren Bürgertums hat. Niemand hielt es für nötig, den grünen Parteitag durch Störungen oder Proteste aufzuwerten. Längst orientiert man sich hier in Richtung PDS oder engagiert sich in globalisierungskritischen Organisationen wie Attac. Aber das sind wohl Kreuzberger Marginalien, über die man bei den Grünen, die die große Mitte im Blick haben, heute nicht mehr lange nachdenkt. EBERHARD SEIDEL
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen