Die Machenschaften eines Vaters

Aus dem Nachlass von Werner Raith erscheint ein Jugendbuch rund um eine Entführung in Italien: „Falsche Beute“

Alles beginnt mit einem leidigen Familienkonflikt: Lauras Vater hasst es, wenn jemand nicht rechtzeitig zum Abendessen erscheint. Es ist später geworden auf dem Geburtstag, und Laura überlegt, ob sie zu Hause anrufen soll. Die Fünfzehnjährige will keinen Rüffel am Telefon kassieren. Sie steigt auf ihren Motorroller und will sich auf den Heimweg nach Florenz machen, als plötzlich drei mit Wollmützen vermummte Gestalten vor ihr stehen. Auf der Rückbank eines Autos kommt sie wieder zu sich. Im Kofferraum eines zweiten Wagens geht die Fahrt weiter. Tausend Fragen gehen ihr durch den Kopf. „Was wollt ihr von mir?“, fragt sie beim nächsten Halt und erntet von ihren Entführern nur kaltes Lachen. „Wir sind arme Leute. Wir müssen auch leben. Und ihr seid stinkreich. Also gebt ihr uns etwas ab. So einfach ist das.“

Ein fatales Missverständnis. Lauras Vater besitzt zwar eine Fabrik für Baustoffe, doch er ist hoch verschuldet und freut sich auf die Wochenenden, weil dann wenigstens die Banken nicht wegen der Rückzahlung von Krediten anrufen. Laura ist die falsche Beute, doch das wollen die Entführer nicht wahrhaben. Werner Raith schildert den Alltag der Entführten aus Lauras Perspektive: Morgentoilette, Wasserknappheit, Essensrituale, die Kontrolle der Fesseln, das Zählen der Tage, den Verlust des Zeitgefühls. Immer wieder Unsicherheit, Angst, Unverständnis. Die Einfühlung funktioniert, da die Geschichte nicht von rationalem Kalkül, sondern von Lauras intuitiven und gefühlsmäßigen Handlungen lebt.

Interessant wird die Erzählung besonders dann, wenn sich eine Beziehung zwischen Entführern und Entführter aufbaut. Wenn Raith Hintergründe aus der Lebenswelt der Täter durchschimmern lässt. Hinter den Masken stecken Männer, die sich nach ihren Familien sehnen und sich Sorgen um ihre Kinder machen. Die Armut in Süditalien hat sie zur Handlangerschaft im organisierten Verbrechen getrieben, das große Geld streichen andere ein. Auch wenn es sich um keinen Tatsachenbericht handelt, wirkt die Erzählung glaubwürdig. Kein Wunder: Werner Raith hat zahlreiche Artikel, Romane, Fach- und Jugendbücher zum Thema Mafia veröffentlich, hat viele Jahre lang als Korrespondent für die taz und zuletzt für den Tagesspiegel über Italien berichtet. Diese Routine hat dem im letzten Frühjahr verstorbenen Autor den Ruf eines Mafiaexperten eingebracht. Das jetzt veröffentlichte Manuskript stammt aus dem Nachlass des Vaters dreier Kinder. „Verräterkind“ oder „Die Hälfte des Mondes“ sind andere Jugendbücher Raiths, in denen er ebenfalls über „seine“ Themen – Italien und Mafia – schreibt.

Einfache Lösungen bietet Raith nicht. So ist Lauras Geschichte mit ihrer Befreiung nicht an ihrem Ende angelangt. Sie verstrickt sich immer tiefer in Konflikte mit ihrer Familie, ihrem Freund Antonio, der Staatsanwaltschaft. Bei den verzweifelten Versuchen, seine Tochter auf eigene Faust zu befreien, hat Lauras Vater unlautere Pfade beschritten – und Laura gerät in einen Gewissenskonflikt zwischen der Loyalität zu ihrem Vater und der Pflicht zu wahrheitsgemäßen Zeugenaussagen. Misstrauen beherrscht die Verhältnisse in der Familie, Misstrauen auch gegenüber den Anwälten, den Gesetzen, dem Staat.

Laura wird nicht für voll genommen, nur häppchenweise erfährt sie, in welche Machenschaften ihr Vater verwickelt ist. Immer wieder wiederholen sich die Vorwürfe gegen sie, auch dann, als das allgemeine Unverständnis sie fast das Leben gekostet hat.

Werner Raith bringt seine Erzählung zum einzig konsequenten Ende: Es ist kein Happy-End. Er hat seine Leser in eine spannende und kritische Auseinandersetztung mit dem organisierten Verbrechen verwickelt, hat Probleme aufgeworfen, für deren Lösung es kein eindeutiges „richtig“ oder „falsch“ gibt. Die differenzierte Auseinandersetzung mit Motiven und Folgen des organisierten Verbrechens, mit den Schwierigkeiten seiner Bekämpfung, aber auch mit familiären Konflikten sind große Stärken dieses Buchs. Viel wäre verloren gegangen, hätte der Autor am Schluss alle Fäden glücklich zusammengeführt.

Aber nicht nur durch die komplexe Entführungsstory besticht das Buch. Daneben beeindrucken Bilder: von der unwegsamen Macchialandschaft im Süden Italiens; vom Eifersuchtsgehabe italienischer Männer; und von der Rolle der Familie – als Ort der Nähe und Sicherheit, aber auch als Ursache von Konflikt und Zwiespalt. SILKE LODE

Werner Raith: „Falsche Beute“. Bertelsmann Verlag, München 2002.160 Seiten, 13 €