: Die Zeit und der Schlafwagen
Der 30-jährige Berliner Autor Steffen Kopetzky hat die Handlung seines neuen Romans auf die Schienen Europas verlegt und mit „Grand Tour oder die Nacht der Großen Complication“ einen großen, labyrinthischen Zeit- und Europa-Roman geschrieben
von GERRIT BARTELS
Es ist eine hohe Bürde für ein Buch, wenn in seinem Zusammenhang ausdauernd von „Größe“ die Rede ist, sei sie nun qualitativer oder auch nur quantitativer Art – nur selten wird gehalten, was ein Etikett wie „groß“ verspricht. Beträchtliche Skepsis schien demnach vor der Lektüre von Steffen Kopetzkys Roman „Grand Tour“ angebracht. Da hatte der Autor selbst schon vor Jahren angekündigt, einen Roman schreiben zu wollen, der mindestens 700 Seiten haben sollte „und voll wäre von faszinierenden, welthaltigen Dingen“ – und die Bücher, die dann von ihm veröffentlicht wurden, „Eine uneigentliche Reise“ und „Einbruch und Wahn“, waren das genaue Gegenteil davon: papierene Kopfgeburten, in der Tat uneigentliche Reisen, elegant, aber leblos.
Sein Verlag wiederum wurde im Vorfeld von „Grand Tour“ nicht müde zu streuen, dass man es nun mit dem „Opus magnum“ des Autors zu tun habe – nicht schlecht für einen 30-jährigen, aber auch die bange Frage provozierend: Was macht Steffen Kopetzky die nächsten 40 Jahre? Glossen schreiben? Schlafwagenschaffner werden? Zu guter Letzt trägt der Roman gleich zweimal das Wörtchen „groß“ in seinem Titel: „Grand Tour oder die Nacht der Großen Complication“ heißt das jetzt 736 Seiten starke Buch. Also viel falscher Geruch von Größe hier, könnte man denken, um nach der Lektüre eines Besseren belehrt zu werden: ein großes Buch, ein gutes Buch, ein gelungenes Buch!
Ein Roman, in dessen Zentrum eines der beliebtesten, aber auch schwierigsten Sujets der Literatur der Moderne und Postmoderne steht: die Zeit. Die Zeit in der abgeschlossenen Atmosphäre eines Romans. Die Zeit, die sich gerade in Büchern wie diesen aufzuheben scheint und nicht nur eine Aneinanderreihung von unzähligen Momenten ist. Die Zeit, die von vielen gewöhnlichen Uhren und ein paar besonderen Uhren geteilt wird. Die Zeit und ihre unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die Zeit, die noch jedem Menschen ein Schnippchen geschlagen hat, die erinnerte Zeit, die gelebte Zeit, die Zeit als eines der größten Welträtsel überhaupt: alles drin in diesem Buch, alles fein verwoben in diese „Grand Tour“, die sich in den letzten acht Monaten des vergangenen Jahrtausends abspielt. Dass Kopetzky dabei die Handlung seines Romans sozusagen auf die Schienen Europas verlegt, passt ins Bild: Nirgendwo lässt sich Zeit besser neu bestimmen, nirgendwo lässt es sich besser aus ihr herausfallen als beim Reisen in Zügen. (Drogen zählen nicht, Träume auch nicht!)
So verschiebt sich auch so einiges für eine der beiden Hauptfiguren des Romans, für den jungen Architekturstudenten Leo Pardell: Lebensweisen, Zeiterleben, Vergangenheit und Zukunft. Eigentlich auf dem Weg nach Argentinien, um Spanisch zu lernen, bleibt Pardell in München hängen und heuert bei der Bahn als Schlafwagenschaffner an. Zwar nur für acht Monate, doch in diesen verändert sich für Pardell mehr als in den vergangenen 28 Jahren seines Lebens – eine sentimentale Erziehung im ICE-Tempo, erfahren aber in Zügen, die aus einer fernen Zeit zu stammen scheinen. Gibt es wirklich noch Leute, die lange Reisen mit dem Zug unternehmen?
Die andere Hauptfigur ist der Nachlassverwalter und fanatische Uhrensammler Friedrich von Reichhausen. Dieser entdeckt in der Erbmasse eines Industriellen die Spur einer lange verschollenen Uhr namens „Ziffer a grande complication 1924“ – ein Einzelstück mit Jahrtausendanzeige, das Reichhausen unbedingt in seinen Besitz bringen möchte. Wie Pardell kommt auch er bei der Suche nach der sagenumwobenen Uhr den wenigen Wahrheiten und vielen Lügen, den gesammelten Verfehlungen und Geheimnissen seiner Existenz auf die Schliche. Während Pardell aber ausreift und sich abnabelt, klinkt Reichhausen sich wieder ein in seine Lebensgeschichte, die er bislang erfolgreich mit Hilfe von viel Alkohol, viel Geld und seinem Uhrentick auf Distanz gehalten hatte.
Kopetzky flankiert diese zwei Erweckungs- und Entwicklungsgeschichten mit einem Haufen anderer Lebensgeschichten. Diese sind mal mehr, mal weniger ausführlich geschildert, dabei immer mit schnellen Strichen gezeichnet und führen nur selten auf ein totes Gleis: Sie alle hängen irgendwie miteinander zusammen, diese tragischen, skurrilen, gescheiterten und liebenswerten Existenzen aus der halben Welt, und wenn es der reine Zufall ist, der dafür sorgt – die „Grand Tour“ ist eine kleine menschliche Komödie am Ende des 20. Jahrhunderts mit vielen großen Momenten. Etwa wenn der englische Detektiv Reginald Bowie in Brüssel bei seinem Vorgesetzten entdeckt, dass das vereinigte Europa ein einziger, großer Bluff ist, vor allem in Brüssel – ja, genau, „Grand Tour“ ist auch ein Roman über Europa. Oder wenn das allen Zeiten entsagende Pariser Schlafzimmer des Pardell-Freunds Quentin vorgestellt wird – und man versucht ist, genau so eins sich selbst zu erträumen. Oder die Szenen im „Gran’ Tour“, einer Pariser Bahnerkneipe, die genauso labyrinthisch ist wie das europäische Schienennetz und dieser Roman selbst – Kopetzky aber findet immer wieder heraus.
Und er umgeht geschickt die Fallen von allzu viel Verklärung der Bahn und ihrer Vergangenheit: durch jede neue Volte, die sein Roman schlägt. Durch jede weitere Figur, die ihrem alten Leben entsagt, ohne diesem mehr als eine Träne nachzuweinen. Und durch die Leichtigkeit eines Erzähltons, der selbst harte Fakten über Uhren oder die Geschichte des Eisenbahnnetzes Europas wirken lässt, als seien sie extra für dieses Buch erdacht worden, als würden sie ewig über allen Zeiten und Welten schweben. Es ist eine lange Reise, auf die man sich mit diesem Buch begibt, doch manchmal sind die längsten Reisen tatsächlich die besten und erfahrungsreichsten.
Steffen Kopetzky: „Grand Tour oder die Nacht der Großen Complication“. Eichborn Berlin, 736 Seiten, 29,90 €
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen