Echo aus dem Apfelspeicher

Der nette Onkel aus Neuenfelde: Einst schrieb Matthias Arfmann deutsche Independent-Geschichte. Heute lotst er als Produzent den deutschen Rap-Nachwuchs sicher durch die Fährnisse des Betriebs

„Turtle Bay Country Club“ heißen Studio, Label und Arfmanns aktuelle Werkschau

von THOMAS WINKLER

Manchmal geht alles sehr schnell. Gestern noch Indie-Ikone, heute plötzlich dick im Geschäft. Eben noch vor ein paar hundert gespielt, jetzt verantwortlich für Massenaufläufe. Im letzten Leben noch ein zurückgezogener Studiotüftler, 1999 plötzlich für den deutschen Echo-Musikpreis nominiert, neben dem Produzenten von Lou Bega und Stefan Raab mit „Maschendrahtzaun“. „Ich habe total Schiss gekriegt“, sagt Matthias Arfmann, „ich hab gedacht, jetzt ist alles vorbei, jetzt ist alles aus“.

Arfmann, vor drei Jahren nominiert als Produzent von „Bambule“ von den Absoluten Beginnern, hat den Echo nicht gewonnen. „Das wäre das Schlimmste gewesen“, sagt er heute. Er ist nicht einmal hingegangen zur Verleihung – schon allein die Nominierung schien ihm „total krank“ für einen, der seine Band einst Die Kastrierten Philosophen taufte, mit ihnen in den 80er-Jahren bundesdeutsche Underground-Geschichte schrieb und in deren Verlauf eine „große Scheu vor dem Mainstream-Business“ entwickelte.

Heute ist Arfmann 38 Jahre alt, hat den Echo überlebt und seine gewohnte Position am Rande des Musikgeschäfts neu eingenommen. Heute darf er sich wieder, weitestgehend unbelästigt von der großen weiten Welt, seinen Basteleien widmen in einem zu einer Aufnahmestudio-Wohn-Einheit ausgebauten Apfelspeicher, in dem er Kräutertee aus der Thermoskanne serviert, und dessen, wie er mit einem seltsamen Stolz berichtet, erster menschlicher Bewohner er ist. Direkt von hier, aus dem beschaulichen Neuenfelde am südlichen Rand Hamburgs, kommt auch das aktuelle Solowerk von Arfmann: „Turtle Bay Country Club presents Dub Decade“. Turtle Bay Country Club heißen Studio und Label, und die Platte ist Werkschau seines Produzentenschaffens und Rückblick auf ein Jahrzehnt zwischen Bass und Schlagzeug, Echoeffekten und Flangern, zwischen Reggae, HipHop und Pop.

Von hier kam dereinst die Revolution, kam der Hype, von hier nahm das Ende des deutschen Rap seinen Lauf. Heute nieselt es, aber als einmal das Wetter besser war, saßen dort draußen auf groben Holzbänken die drei von den Absoluten Beginnern und Arfmann, ihr Produzent, und wussten, dass sie demnächst den deutschen HipHop in die Charts katapultierten würden. Sie rauchten einen, sie redeten und sie wussten es. Da drin, auf dem Mischpult lag das Band, das ihr Leben verändern würde.

Auf dem Mischpult lagen die Masterbänder für „Bambule“, das zweite Album der Beginner, und vor allem die daraus ausgekoppelte Single „Liebes Lied“. Wenige Monate später konnte Arfmann aus nächster Nähe die Ankunft des Erfolges mitverfolgen. Als „Liebes Lied“ an die Spitze der Charts schoss, war er gerade als Live-Mixer mit den Beginnern auf Tournee: „Eben hatten wir noch Konzerte vor 200 Zuschauern, und innerhalb von zwei Wochen hat man sich auf Supermarktparkplätzen wieder gefunden und das Publikum war komplett ausgetauscht und extrem jung geworden. Die meisten wurden von ihren Eltern gebracht.“ Das Jahr 1998 zeigte den großen Plattenfirmen, dass massenwirksamer DeutschHop nicht allein von den Fantastischen Vier kommen muss, und löste in letzter Konsequenz den Ausverkauf eines ganzen Genres aus. Dieser Ausverkauf ging ausgerechnet an ihren Auslösern bislang vorbei. Die Absoluten Beginner vermieden all die Fehler, die jene begingen, die im Fahrwasser ihres Erfolgs segeln wollten. Dafür ist auch Arfmann verantwortlich. Denn „wenn Leute so total jung sind, dann haben die ja von nichts eine Ahnung“. So wie er selbst damals. Und wie er selbst vom heute noch aktiven Indie-Papst Alfred Hilsberg angeleitet wurde, unterstützte er nun Jan Eißfeldt und Kollegen und riet ihnen zu einer dosierten Verweigerungshaltung. Während in den vergangenen beiden Jahren „die Promowalze über HipHop hinweg ballerte, alles kritiklos eingekauft und HipHop ausgeschlachtet wurde“, so Arfmann, hielten sich die Beginner nach dem Erfolg von „Bambule“ zurück. Die Bravo wurde nach einer ersten, verfälschenden Geschichte boykottiert, und schon aus Prinzip lässt Arfmann keine TV-Teams in sein Studio. Dafür schlug Jan Eißfeldt mit seinem Reggae-Alter-Ego Jan Delay, dessen „Searching for The Jan Soul Rebels“ ebenfalls Arfmann produzierte, überraschend linke, überraschend radikale Töne an. „Ich möchte nicht, dass ihr meine Lieder singt“ war der programmatische Song der Platte. Eine Zeile, die auch von Arfmann stammen könnte.

Die Beziehung Arfmann/Eißfeldt ist erfolgreich und beruht auf gegenseitigem Vertrauen. Arfmann ist kein Mietproduzent. Jahrelang arbeitete er mit den Beginnern, ohne dass ihr Verhältnis schriftlich fixiert gewesen wäre. Als der Erfolg kam, hätten sich die neureichen Jungspunde von dannen machen können. Sie sind geblieben und sitzen gerade auf der Nordseeinsel Amrum, um die Tracks für ihr neues Album zu schreiben. „Irgendwann werden sie dann wieder hier reinkommen“, weiß Arfmann, „und sich freuen, dass es hier schön ruhig ist.“

Nach demselben Prinzip ging er mit Patrice vor. Monatelang nahm er mit dem in Köln aufgewachsenen Reggae-Sänger auf. Das Debüt „Ancient Spirit“ rührte im Jahr 2000 nicht nur die Kritiker, sondern verkaufte sich auch überraschend gut und bereitete den Erfolg von deutschsprachigem Reggae, von Jan Delay und Seeed die Bahn. In kleinerem Maßstab kopiert Arfmann so das in London residierende Musikerkollektiv um den von ihm verehrten Dub-Produzenten Adrian Sherwood.

Arfmanns Kollektiv kennt keine Altersgrenzen: Momentan nimmt er mit Lothar Meid dessen neue Soloplatte auf, obwohl der ehemalige Bassist der legendären Krautrock-Combo Amon Düül noch nicht einmal einen Plattenvertrag hat. Aber, sagt Arfmann, „der muss das jetzt machen“, denn parallel schreibt Meid noch an einem stetig wachsenden Roman, seiner Abrechnung mit der Linken: „Das ist deutsche Geschichte, das geht von seiner Kommune-1-Zeit über Sessions mit Jimi Hendrix zu dem ganzen Irrsinn, den er durchgemacht hat.“

Seinen eigenen Sound sieht Arfmann als „warm und breit“. Die HipHopper schätzen an ihm, dass er „den shit tight macht“. Für Meid ist er eine aktualisierte Ausgabe von Conny Plank, dem legendären Kölner Rock-Produzenten, der schon mal Aufnahmebänder quer durchs Studio um Stühle herum legte auf der Suche nach dem speziellen Sound-Effekt. So anpassungsfähig muss ein Produzent wohl sein, um durch seine Mitarbeit die jeweils passenden Assoziationen zu evozieren.

Er selbst glaubt, seine Aufgabe sei vor allem, „die Struktur des Liedes“ so herauszuarbeiten, „dass es greift“. Nicht nur „weil die meisten Radioredakteure nur noch Abspielsklaven sind und sie einem da draußen sowieso nicht mehr als 3:30 Minuten geben“, sondern vor allem „weil es ein großer Reiz ist, die Sachen auf den Punkt zu bringen“. Das funktionierte bei den Punkbands, mit denen er seine Produzenten-Karriere begann, ebenso wie mit Blumfeld oder den Goldenen Zitronen, für die er einzelne Stücke produzierte, und es funktioniert heute mit HipHop und mit Reggae. Auf „Turtle Bay Country Club presents Dub Decade“ nun schubst er Dub sanft in Richtung Pop. Die Geschwindigkeiten der Tracks, die von Patrice, Jan Delay, Zion Train und anderen stammen, variieren von 58 bis 111 beats per minute, aber trotzdem bleiben sie Dub, leben sie doch von der entspannt fließenden Anmutung von Langsamkeit.

Ob Amon Düül oder Absolute Beginner: Arfmann kennt keine Altersgrenzen

Dub ist für Arfmann, der selbst noch nie auf Jamaika war, eine Art Meta-Musik, „die Mutter, das Urskelett: Selbst in House oder völlig hysterischen Dance-Tracks kann man mit Dub herumexperimentieren.“ Diese Techniken, auf Jamaika in endlosen bekifften Nächten entwickelt, bringen noch jeden Track „zum Glänzen und zum Fließen, denn Dub geht immer“. Eben jene Urmutter aller Musiken ausführlich studiert zu haben dürfte wohl geholfen haben, dass Arfmann als einer der wenigen „überzeugten Indie-Musiker“ aus den 80er-Jahren es geschafft hat, im Hier und Jetzt anzukommen. Damals spielte Philip Boa in den großen Hallen und die Kastrierten Philosophen in den mittelgroßen. Heute schmollt der Independent-Vordenker Boa auf Malta, während Arfmann zwar davon erzählt, dass „die künstlerische Freiheit das größte Gut war, das wir damals hatten“, aber die Regler schiebt für einige der hoffnungsvollsten Talente hierzulande. So im Hintergrund, „so wie es jetzt ist, ist es schon recht“. Bei den Künstlern, die er produziert und die meist mindestens eine halbe Generation jünger als er sind, gilt ein Trip nach Neuenfelde als so etwas wie ein Besuch beim netten Onkel.

Demnächst wird der Onkel wieder zum Neffen: Für ein weiteres Album als Turtle Bay Country Club hat sich Arfmann „einen Traum erfüllt“ und Tony Cook und Moummout Guinia in den Apfelspeicher geladen, um die Rhythmus-Tracks einzuspielen. Der James-Brown-Schlagzeuger Cook und der Gnawa-Bassist aus Marokko sind sich noch nie begegnet. „Ich habe keine Ahnung, was da rauskommt“, fragt sich Arfmann, „aber das wird unglaublich: Die beiden zusammen werden vielleicht einen Riddim spielen, wie es ihn bisher nicht gegeben hat.“ Es ist die Idee, wie sie nur jemandem in den Sinn kommen kann, der zuletzt an kommerzielle Aspekte denkt.

„Es ist ein Luxus, sich zu verweigern“, hat Arfmann in seinen Jahrzehnten als Musiker und Produzent gelernt. Es ist ein Luxus, den er damit bezahlt, mit 38 Jahren nicht allzu üppig und immer noch zur Miete zu leben trotz Plattenverkäufen, die sich mittlerweile zu Millionen addiert haben. Die „elitäre und auch arrogante Grundhaltung“, seine Produzententätigkeit nicht als Dienstleistung zu sehen, sondern als künstlerischen Prozess, hat ihn zwischendurch immer wieder nur knapp an der Pleite vorbeischrammen lassen, aber bringt immer wieder wunderschöne Tracks hervor. Darunter auch einige der Songs auf „Jump (Without a Warning)“, dem neuen Album von Katrin Achinger, seiner ehemaligen Lebensgefährtin und Partnerin bei den Kastrierten Philosophen. Die beiden leben heute getrennt, zogen aber wegen des gemeinsamen Sohnes parallel nach Neuenfelde.

Dort, südlich der Elbe, nieselt es immer noch. Die Sonne ist untergegangen. Auf dem Weg nach Hamburg hinein verwittern am Straßenrand Transparente einer Bürgerinitiative, die gegen einen Autobahnausbau protestieren. Im Auto läuft Radio Hamburg: Hier wird dem Hörer die Wettervorhersage als Rap dargebracht. Im Apfelspeicher sitzt Matthias Arfmann und wartet darauf, dass die Absoluten Beginner aus Amrum zurückkommen. Dann wird wieder palavert im Apfelgarten, vor allem aber: werden Songs poliert. Der Dub muss fließen, damit die Lieder glänzen.

„Turtle Bay Country Club presents Dub Decade“ (Turtle Bay Country Club/Island). Tour: 1. 4. Würzburg, 2. 4. Leipzig, 3. 4. Köln, 4. 4. Berlin, 5. 4. München, 6. 4. Frankfurt, 8. 4. Hamburg