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Eine Wendegeschichte

Zuerst war Goldgräberstimmung. Dann kam die Pleite. Die Weiße Stadt, ein Ortsteil in Oranienburg, ist dabei auf der Strecke geblieben. Auf dem Gelände einer ehemaligen russischen Kaserne staut sich die Poesie des Weggeworfenen

von WALTRAUD SCHWAB

Wie der Höhepunkt in einem Film hätte es werden können: „Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten“, sollte der Auktionator heute in den Saal des Amtsgerichts Neuruppin rufen und mit dem Hammer auf den Tisch hauen. Für Bruchteile von Sekunden hätte Stille geherrscht. Denn mit dem dritten Schlag wäre die Weiße Stadt, ein Teil von Oranienburg, in dem etwa 3.000 Menschen wohnen, an den Meistbietenden versteigert worden. Als vorläufiger Wendepunkt in einer Wendegeschichte. Was für eine Story, die nun nicht geschrieben wird, da sich einer der Interessenten, die Oranienburger Wohnungsbau-Genossenschaft (OWG), am Freitag mit dem bankrotten Investor Klaus Kesting und den Gläubigerbanken vorab geeinigt hat. Für wie viel, darüber schweigen die Beteiligten.

Mehrere Straßenzüge mit zweistöckigen Reihenhäusern fügen sich zur Weißen Stadt. Leicht geschwungen sind die Häuserzeilen; wie Felder eines Flurstücks liegen sie nebeneinander. Hauptverkehrsstraße, Bahndamm und Kanal grenzen sie ein. Die vierte Seite ist offen. Nicht steril wirkt die weiße Farbe der Häuser, eher versöhnlich und leicht. Der Charme der zweiten Haut, hinter der sich die Bewohner hier verstecken, würde als Kulisse für Neckermann-Kollektionen taugen. An der Weltoffenheit, die dabei zur Schau gestellt wird, wäre nicht zu zweifeln. Durchs Retouchieren wird selbst der Himmel noch blau. Dass die Vorortruhe dennoch aus der Balance geraten ist, wissen die meisten. Allerdings aus unterschiedlichen Gründen.

Das Leben hat Uwe Wedel vom Bürgerverein der Siedlung gelehrt, dass der Schein gerne trügt. Ein Thüringer ist er, den der Zufall in die Weiße Stadt verschlagen hat. Ein Angestellter im Großhandel, dem der Selbsthilfegedanke gefällt und die Ostmentalität nicht. Er lässt sich von Selbstverantwortung herausfordern und wartet ungern darauf, „dass jemand kommt und es richtet“. Diese Haltung, das weiß er, wurde den DDR-Bürgern antrainiert. Er aber will sie abgestreift wissen. „Wer, wenn nicht wir, soll es ändern?“ In der Weißen Stadt nämlich liegt seit 1997 vieles im Argen. Denn seit Kesting, der Investor und Initiator des viel geprießenen Modellprojekts, bei dem auf dem Gelände einer russischen Kaserne Sozialwohnungen und Eigenheime teils restauriert, teils neu gebaut werden sollten, bankrott gegangen ist, wird nichts mehr gemacht. Circa 30 Millionen Euro Fördergelder von Bund und Land sind bis zum Konkurs an ihn geflossen.

Die Weiße Stadt ist in den 30er-Jahren als Arbeitersiedlung für die angrenzende Heinkel-Flugzeugfabrik entstanden. Nach dem Krieg zog eine sowjetische Hubschraubereinheit auf dem Fabrikgelände ein. Reste der Kasernenmauer ziehen sich längs der Bagnoletstraße und trennen sie in zwei Hälften.

Eine einzige Mark bezahlte der Bauunternehmer Kesting nach der Wende für das 60.000 Quadratmeter große Gelände. Ohne sich um baubürokratische Hindernisse kümmern zu müssen, begann er noch vor dem Abzug der Russen mit der Sanierung bestehender Gebäude. Nachdem seine Firma in Konkurs ging, kam die Siedlung unter die Zwangsverwaltung des Amtsgerichts. Halbfertig steht der neue Ortsteil seither auf dem Kasernengelände. Ein Kleinod ohne Fassung. Ein Idee ohne Kontext. Ein Haus ohne Hüter.

In manche der Wohnblöcke sind Mieter eingezogen, andere entpuppen sich bei näherer Betrachtung als abgestreifte Hüllen. Die Fenster sind eingesetzt, der Verputz frisch aufgetragen, aber aus den Klingelanlagen hängen die Kabel, die Türen sind verbarrikadiert. Seit sechs Jahren ist das so, und die Geschichtslehrerin Zierer, die hier wohnt, wundert sich vor allem, dass keine der Scheiben in all den Jahren zu Bruch ging. Ein Respekt vor dem, was eigentlich schön sein könnte, ist darin zu entdecken. Wenn es nicht so ärgerlich wäre, würde dies mit den Umständen versöhnen. Die Zierers jedenfalls gehören zum Bürgerverein und nehmen die Dinge ebenfalls in die eigene Hand. Das brachliegende Grün rund um ihren Block bepflanzen sie fürs Erste mit Dauerhaft-Blühern. Stiefmütterchen sind es. Violette und gelbe.

Nach der Pleite ist vor allem die Infrastruktur auf der Strecke geblieben. Weil die Finanzverhältnisse nicht klar waren, wurden öffentliche Gelder für die Gestaltung des Wohnumfelds nicht mehr freigegeben. So kommt es, dass ein Teil des brachliegenden Kasernengeländes von Lastwagen als wilder Parkplatz benutzt wird. Daneben haben die Methodisten einen gelben Container aufgestellt. Dekoriert mit roter Flamme und Kreuz. „Kirche im Container“ heißt das. Der Bürgerverein hält seine Versammlungen dort ab, die Jugendlichen ihren Tanzkurs. Hinter dem Blechkasten wurden zwei Schaukeln und eine Rutsche in den Sand gestellt.

Mehr Infrastruktur gibt es nicht, wohl aber Verwilderung auf dem kanalseitigen Teil des Geländes, auf dem noch alte Ruinen aus der Militärzeit stehen. Das struppige Fell der herrenlosen Katze passt zum verbarrikadierten Plattenbaublock, in dem sie haust. Verrostete Balkone skandieren eine rhythmische Ordnung, die nur für sich steht. Kein Zivilisationswunsch gibt ihnen noch Sinn. Alle Fenster sind zerschlagen, auch jene in den Betongebäuden der alten „Russenschule“ unweit davon. Wie Höhleneingänge wirken die Fassaden. Nach dem Konkurs scheiterte der Verkauf des Projekts laut Zeitungsberichten daran, dass Kesting vom damaligen Kaufinteressenten für das brachliegende Gebiet mit den Ruinen, das er mit seiner Mark dazubekommen hatte, mehr als die gebotene eine Million bezahlt haben wollte.

Auf dem Gelände hinter den Ruinen staut sich die Poesie des Weggeworfenen: das gekrümmte Polster einer Eckbank, Betonplatten, auf denen Teer ausgeleert wurde und nun Flaschenscherben kleben. Ein rostiger Hydrant steht da, und neben einem auseinander montierten riesigen Trafo liegen weggeworfene Blumenkästen, aus denen Kraut sprießt. Die Antithese der Kultur herrscht hier. Ein Liebespaar flaniert vorbei. Der Mann hat seiner blonden Freundin den Arm um die Schultern gelegt.

Wie die OWG, Käuferin der Weißen Stadt, die nun alles der Zivilisation zuführen soll, mit dem Gelände umgeht, ist noch nicht bekannt. Bekannt ist, dass sie theoretisch die Mietverträge der 688 erworbenen Wohnungen kündigen könnte. Daran allerdings habe sie kein Interesse, wohl aber wünscht sich die 1958 gegründete Genossenschaft, dass die Mieter nun Mitglieder werden. Die Verslumung jedenfalls soll nach erstem Bekunden gestoppt, das Halbfertige fertig gestellt werden. Die Bewohner hoffen das Beste, wohlwissend, dass die Matrix einer Wendegeschichte immer neue Wendungen zulässt.

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