: Die Marsmenschen von Santa Cruz
Während Biennalen in Havanna und São Paulo als Plattform für lateinamerikanische Kunst dienen, scheint man sich in Bolivien nicht allzu sehr für Kunst aus dem eigenen Land zu interessieren. Die Gleichgültigkeit hat Folgen, ansässige Kulturschaffende suchen immer mehr nach Anbindung an den Westen
von CRISTINA NORD
„Die Bolivianer sind ein kulturloses Volk“, sagt Professor Mansilla. 59 Jahre ist er alt, ein Politikwissenschaftler, ein Einzelgänger in La Paz, der Lehraufträge an ausländischen Universitäten innehat, nicht in Bolivien. Seine Vornamen versteckt er in einem Kürzel, H. C. F., man könnte ihn für einen Dandy halten, wenn denn La Paz eine Stadt für Dandys wäre und er so über den Dingen stünde, wie es ihm selbst vielleicht am liebsten wäre. „Warum, glauben Sie“, er weist auf den Bildschirm über der Hotelbar, in der wir uns verabredet haben, „ist das Fernsehgerät eingeschaltet, bei voller Lautstärke, wenn wir die einzigen Gäste sind?“ – „Weil wir hier in einer billigen Version von Miami leben, weil die Menschen von der Technik begeistert sind, aber die Wissenschaft hassen. Sie sind auf Prestige aus und Macht, und sie sind von denkbar traditioneller Mentalität. Was sich nicht in Geld verwandeln lässt, interessiert niemanden, die Literatur zum Beispiel gilt als unseriös, als Angelegenheit von Homosexuellen.“
„Was wir suchen“, sagt Lorgio Vaca, „finden wir nicht in den Büchern, sondern im Leben, in der Natur.“ Lorgio Vaca ist Maler und Bildhauer oder besser beides in einem, weil er vor allem Murales schafft: Wandgemälde und -reliefs im öffentlichen Raum, im Zoo von Santa Cruz zum Beispiel oder an der Fassade des Redaktionsgebäudes von El Deber, der Tageszeitung der Stadt. Zum Begriff gemacht hat das Mural der Mexikaner Diego Rivera in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Es geht dabei um den didaktisch aufgeladenen Versuch, populäre Bildsprache und politischen Appell zu vereinen. Daher nimmt es nicht wunder, wenn Vaca oft von „unserem Volk“ und „unseren Leuten“ redet und damit die Bauern und die Indigenas, die Quechua, Aymara und Guarani meint, die zusammen über die Hälfte der bolivianischen Bevölkerung ausmachen in einer Gesellschaft, die Teilhabe nach wie vor von Hautfarbe und Herkunft abhängig macht. „Diese unsere Völker sind meine Lehrmeister“, sagt Vaca, „ihre Ausdrucksformen, ihre Vorstellungskraft sind visuell.“ Er schwärmt vom einfachen Leben auf dem Land, von der Unberührtheit der Urwalddörfer. Welche Errungenschaft der Zivilisation könnte dort von Nutzen sein? Die Schule? Die schaffe nur Jugendliche, die mit dem Leben im Dorf nicht mehr zufrieden sind und abwandern. Für Vaca ist der gute Wilde nicht gestorben.
Zu seinen Lieblingswörtern gehören „spüren“, „erleben“ und „fühlen“; sein liebstes Feindbild ist die US-amerikanische Kulturindustrie, der es die eigene Kultur entgegenzuhalten gelte. Die Hausangestellte bringt Kaffee, der Ventilator kreist ohne Unterlass. Anders als in den Städten des Altiplano, des Hochlands, ist es heiß in Santa Cruz. So heiß, dass Vaca nicht mehr als Boxershorts und Unterhemd trägt. In der Mitte des Ateliers stehen Modelle, Entwürfe zu einem Mural für den Park von Montero, einer Kleinstadt im Departement Santa Cruz. Ein aufwändiges Projekt, das Mythologie und Geschichte Lateinamerikas wiederzugeben versucht, mit leuchtenden Farben, Urwaldszenen, Fahnenaufmarsch, historischen Schlüsselfiguren wie Simon Bolívar und Versen aus dem 19. Jahrhundert. „Wir müssen klären, wer wir sind, was die lateinamerikanische Identität ausmacht“, sagt Vaca. Ein bolivianischer Künstler, der sich dieser Frage nicht stelle, werde nicht reüssieren, weder vor dem Publikum noch in seinem Oeuvre. Vaca hat reüssiert: 1.500 Quadratmeter Oberfläche hat er in Bolivien gestaltet, allein in Santa Cruz finden sich 20 Murales, in diesem Jahr ehrt ihn das Museo Nacional de Arte in La Paz mit einer umfassenden Werkschau. Das Mural an der Fassade von „El Deber“ enthält einen stets gültigen Satz: „Für die Kultur gibt es keinen Etat, sagt der Minister.“ Der Casa de la Cultura, dem Kulturhaus von Santa Cruz, ist vor wenigen Tagen die Finanzhilfe gestrichen worden.
Ein paar Tage später trifft sich in der Wohnung des Künstlers Roberto Valcárcel eine Gruppe von Mittdreißigern bis Mittvierzigern: Künstler und Künstlerinnen, eine Architektin, eine Kuratorin, ein argentinischer, in Mexiko lebender Filmemacher, der zu Besuch in Santa Cruz ist. Eine der Künstlerinnen, Raquel Schwartz, nimmt an der Biennale von São Paulo teil und erzählt, wie sie ihre Installation zum Flughafen gebracht hat. Die Zöllner hätten in jedem Rohr und jedem Winkel nach Kokain suchen müssen, bevor die Einzelteile verladen werden konnten. Es gibt Weißwein aus dem Departement Tarija und Cuba Libre, Oliven, Salzcracker, Käse. Zwei Dackel warten, dass für sie etwas abfällt. Sie sehen aus wie die Hunde David Hockneys, was sicher kein Zufall ist. „Camp-Geschmack“, schrieb Susan Sontag vor bald 40 Jahren, „ist seinem Wesen nach nur denkbar in reichen Gesellschaften, in Gesellschaften oder Kreisen, die in der Lage sind, die Psychopathologie des Überflusses zu erleben.“
Die Klimaanlage surrt, an den Wänden hängen Valcárcels Arbeiten, Pop-Variationen eines spanischen Erzengels, von Micky Maus oder der bolivianischen Fahne: pure Oberfläche. Viele Bilder arbeiten mit Schriftzügen: „Este es el significado del cuadro“, „Dies ist die Bedeutung des Bildes“ steht in Lila auf gelb-orangefarbenem Grund, oder, in Rot auf Grau, „U.S. $ 450.-“. Seit drei Jahren hat Valcárcel in Bolivien keine Einzelausstellung mehr gehabt. Ein kubanischer Kritiker, sagt er, habe ihn einen Marsmenschen genannt, einen Marsmenschen in Santa Cruz.
Dass es keine Infrastruktur gibt für die Kunst, darüber sind sich alle Anwesenden rasch einig. Keine Galerien, keine Käufer, keine Akademien, keine Kritiker (die Klage lässt sich auf das Theater, die Literatur, das Kino übertragen). Der globalisierte Kunstbetrieb mag bis Buenos Aires kommen oder bis Mexiko-Stadt.
Doch nach Bolivien, in das in sich selbst eingekapselte Binnenland, verirrt sich kein Gesandter einer Catherine David, eines Szeemann oder Enwezor. Bei den Auftritten zur Biennale in Venedig werden lateinamerikanische Künstler wiederum über den gesamten Kontinent zusammengefasst – von Paraguay bis Haiti, alles in einem Pavillon. Doch das Haus, das für die letztjährige Präsentation ausgewählt war, lag in Treviso, eine halbe Autostunde von Venedig entfernt.
„Habt ihr gesehen, was im Kunstmuseum ausgestellt wird?“ Ein zwei Meter mal zwei Meter messendes Plastikherz, eine Mischung aus Kranken- und Nagelbett namens „Öffentliche Gesundheit“, eine Installation aus Holz, Duschköpfen, Körperflüssigkeiten. Es sind die Höhepunkte der Biennale von Santa Cruz, kaum durchdachte Werke, von denen keines für sich steht. Im kommenden Semester wird die Universität der Stadt zum ersten Mal den Studiengang Freie Kunst anbieten. Weil es kaum Bewerber gibt, können die Dozenten kein Auswahlverfahren etablieren.
„Was bedeutet es, ein Bolivianer zu sein?“, fragen die Anwesenden später am Abend, niemand hat eine Antwort bei der Hand. „Wenn überhaupt, fühle ich mich als Cochabambina“, sagt die Kuratorin, die in Cochabamba groß wurde. „Ich weiß es nicht“, sagt die Architektin, die so lange im Nachbarland Brasilien gelebt hat, dass ihr Spanisch eine portugiesische Färbung angenommen hat. Eine internationale Vita hat fast jeder in dieser Runde: Raquel Schwartz wuchs in Buenos Aires auf, Roberto Valcárcel studierte in Deutschland, Valia Carvalho in Buenos Aires und Mexiko-Stadt. „Dem Bewohner einer beliebigen Großstadt fühle ich mich näher als einem Kokabauern aus dem Chaparé“, sagt die 32 Jahre alte Carvalho.
Einen Tag nachdem La Paz von einem beispiellosen Unwetter heimgesucht worden ist – fast fünf Dutzend Menschen starben in der überschwemmten Stadt –, stehen die Telefone in der Nationalen Kunsthochschule Hernando Siles nicht still. Der Direktor, José Bedoya, beantwortet jeden Anruf. Nein, es finde kein Unterricht statt. Das Erziehungsministerium habe angeordnet, die Schulen und Hochschulen bis Montag zu schließen, aus Anteilnahme und Solidarität mit den Opfern. Später führt er gemeinsam mit dem Studenten Alvaro Ruilova Ramírez durch das dreistöckige Gebäude. In einem Raum regnet es durch die Decke; Computer, Fernseher, Videogeräte gibt es nicht, dafür ein Fotolabor und eine Druckwerkstatt. Alvaro Ruilova Ramírez ist letzten Oktober bei SIART, dem Internationalen Kunstsalon, mit dem Europa-Preis für junge Kunst ausgezeichnet worden für zwei Arbeiten: „Jeniffer 5 years old 11 march Washington D.C. 1997“ und „Papelito“, beides großformatige ethnografische Schwarz-Weiß-Fotografien, die Ruilova Ramírez mit Filzstift und Kugelschreiber übermalt hat, sodass sich über die faltenreichen Gesichter der beiden porträtierten Indigenas Motive von Toilettenwänden legen. Unterstützt vom Goethe-Institut, der Alliance Francaise und diversen europäischen Botschaften wird der junge Künstler im Mai für vier Monate nach Europa kommen, um seine Studien fortzusetzen.
Kann sie sich vorstellen fortzugehen? Valia Carvalho, die schon auf den Biennalen von Havanna und São Paulo vertreten war, muss nicht lange nachdenken: Natürlich. „Wenn ich in Santa Cruz bleibe, schwinden meine Chancen, in den internationalen Kunstbetrieb einzutreten. Und zweitens würde ich mich ab einem gewissen Punkt in künstlerischer Hinsicht auf der Stelle bewegen.“ Die Anregungen fehlen, sie ist abgeschnitten von neuen Entwicklungen, von neuen Medien. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Erika Enwel ist Carvalho etwas gelungen, was in einem seinen Künstlern gegenüber indifferenten Land wie Bolivien außergewöhnlich ist: ein Skandal. Die Ausstellung „Miradas Indiscretas“ („Indiskrete Blicke“), die 1999 in La Paz und Santa Cruz zu sehen war, sprang etwas zu offensiv mit den Weiblichkeitsidealen des Landes um. Stein des Anstoßes war unter anderem eine Installation aus Brotlaibern, die Wunden trugen und – wenn auch nicht zwingend – an weibliche Geschlechtsteile denken ließen. Schönheitswettbewerbe übrigens gibt es, zumindest in Santa Cruz, fast jede Woche einen.
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