In die Pilze gegangen

Einmal vom Ostharz nach Berlin und wieder zurück: André Kubiczek hat mit seinem Romandebüt „Junge Talente“ eine Liebeserklärung an die eigene Jugend in der DDR geschrieben. Diktiergeräte und Interviews dagegen liebt er nicht. Ein Porträt

von CHRISTOPH WALDMANN

André Kubiczek sitzt geduckt auf dem Podium vor dem Mikrofon. Er schaut nicht auf. Die wohlwollenden Fragen der Moderatoren des Literarischen Colloquiums beantwortet er kurz. Er fühlt sich fremd. Freunde hat er nicht eingeladen. „Nach Zehlendorf braucht ihr nicht zu kommen.“ Die Moderatoren wollen wissen, wie es gewesen sei, in der DDR aufzuwachsen. Kubiczek kennt es nicht anders. Seine Erfahrung ist die Sterblichkeit gesellschaftlicher Strukturen. Das Misstrauen gegenüber Zeitungen lernte er damals. Den Hinweis vom Podium: „Heute sind es andere“, gibt er zurück: „Aber Zeitungen.“ Ein paar Lacher sind auf seiner Seite. Dann kommt der Text. Dessen Sprache, Detailverliebtheit und unterschwellige Ablehnung gegenüber allem Stumpfen überzeugen. Doch nach einer Viertelstunde ist der erste Leseauftritt des 30-jährigen Autors schon vorbei.

„Junge Talente“ heißt Kubiczeks Roman. Er handelt vom Ausflug und der Rückkehr eines Sechzehnjährigen aus der Provinz. Less, den aufmüpfigen Spross eines Stahlwerksingenieurs, zieht es in den späten Achtzigerjahren nach Ostberlin. Dort gibt es mehr von deiner Sorte, verspricht ihm Cousine Radost. In der Hauptstadt begegnet er Punkern, Anarchisten, Lyrikern, Hippies und Frauen. Less arbeitet bei der Post und frönt dem ausschweifenden Jugendleben. Alkohol, Liebe und Freundschaft bestimmen die Tage. Die Staatsmacht stört, aber sie lässt sich ertragen.

Kubiczek mag seine Helden und ihre Regungen. Jede Kleinigkeit ist ihm wichtig. Sein Anliegen ist bestechend einfach: „Ich wollte die damalige Stimmung schildern und wie man selber drauf war. Das kenne ich am besten, und warum soll ich mir was aus den Fingern saugen!“

Doch „Junge Talente“ ist nicht nur die Nacherzählung der eigenen Erfahrungen, sondern das Spiegelbild einer Jugend ohne politische Ambitionen. Stilistisch überrascht Kubiczek mit Attributhäufungen und surrealen Mitteln. Da lässt er es auch mal im August schneien, um so die politische Wetterlage des verlorenen Landes besser darstellen zu können.

In seiner Szenekneipe in Prenzlauer Berg sitzt Kubiczek am Fenster. Aus den Boxen röhren die Ramones. Gegenüber schließen Immobilienentwickler eine Lücke mit Beton. Die Bitte, die Lautstärke für das Diktiergerät zu senken, hinterlässt Falten auf Kubiczeks Stirn: „In meiner Lieblingskneipe will ich nicht als schwierig gelten.“

Zwei Jahre brauchte Kubiczek, um seinen Text aus der Ecke zu holen und die Hälfte zu streichen. Jetzt hat er noch einen zweiten Roman auf Halde und freut sich. „Ich hab eher Angst, dass mir der Medienrummel zu viel wird, dass ich öfter in die Kneipe gehen muss und ein Diktiergerät läuft.“

Mit fünfzehn kam Kubiczek zur Literatur. Er durchstreifte Antiquariate und las seinen Kumpels Gedichte vor. „Das war die Ergänzung zur restlichen Jugendkultur. Um sich von denen abzuheben, die gleich aussahen und nicht gleich waren. Es ging um Spaß und Distinktionsgewinn.“ Die Einsendung an die Literaturzeitung Temperamente kam zurück. Epigonal und dekadent lauteten die Schlagwörter der Ablehnung. In Russland sollte Kubiczek Wirtschaftswissenschaften studieren. Doch während des Abiturs besuchte der gebürtige Potsdamer unzählige Theateraufführungen und entschied sich schließlich für Germanistik als Studienfach. Einziger Haken dabei: Er musste vorher noch drei Jahre zum Militär. Zwei Jahre verbrachte er in Hubschrauberbataillonen, hörte bei Nordhausen den Funkverkehr ab und gab das Wetter durch. Das Ende der DDR erlebte er am Radio mit, sein Dienst aber ging weiter. Das Abdanken der Staatsmacht hatte für ihn eher symbolischen Charakter: „Plötzlich liefen alle Militärs mit Bärten rum. Dann verließen die Einpeitscher die SED und liehen sich Pornos aus. Das war die neue Freiheit.“

Im Januar konnte Kubiczek die Uniform abstreifen, um bis zum Studium als Postbote zu arbeiten. Zwei Jahre Uni Leipzig erlebte er als Evaluierungskrampf. Er wechselte ins beschauliche Bonn, dann wieder nach Berlin. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit Handy-Rezensionen und Buchbesprechungen für einen Online-Händler. Als er in der Telefonzentrale einer Charlottenburger Bank antreten sollte, klappte es mit einem ersten Stipendium in Wiepersdorf.

Die drei Monate dort auf dem Land arbeitete Kubiczek hart. Mahlzeiten strukturierten die Tage, und am Esstisch übertrafen sich die Autoren ständig mit Seitenzahlen. Das nervte Kubiczek, er nutzte die Zeit für Fernsehstudien und Pilzesammeln. Es war ein gutes Pilzjahr, und für das Trocknen der gesammelten Röhrlinge gab es im Künstlerschloss gute Möglichkeiten.

Seinen zweiten Stipendiaten-Aufenthalt verbrachte er im ehemaligen Grass-Wohnhaus am Elbufer, in der Nähe eines Kernkraftwerks. Hier gab es glücklicherweise keine Zeilenstolzen, dafür ein großes Arbeitszimmer und zwei Wohnräume. Nur mit den Pilzen war es beim schnellen Brüter nicht so weit her.

Zwölf Jahre nach der Wende hat Kubiczek das Verkaufen eingeholt. „Ich bin Schriftsteller, und das soll so weitergehen. Wenn ich durchs Land gurken muss, komm’ ich nicht zum Schreiben“, betont er. Im Verlag wird ihm gerade etwas anderes beigebracht. Ein Buch muss sich verkaufen. Dazu gehören Lesungen und auch der Umschlag und der Klappentext des Buchs als Signale und Kaufanreize. So wurde der erste Layout-Entwurf für den Umschlag von „Junge Talente“ von der Vertreterkonferenz zurückgewiesen. Jetzt scheint die Sonne der FDJ auf dem Cover, im hellen Blau. Die Behauptung der Vertriebsabteilung, seine Helden hätten das System der DDR zu destabilisieren versucht, bezeichnet der Autor als Marketing. Gleichzeitig hat er Verständnis, will er die Verlagsarbeit nicht sabotieren. Die größte Veränderung seit der Veröffentlichung ist die Verfügbarkeit von Geld. „Es ist nicht superviel, aber für meine Verhältnisse sehr gut. Vor einem Jahr hab’ ich noch geschaut, wie ich die Miete zusammenbekomme. Jetzt mache ich ein, zwei Lesungen, und die Monatsmiete ist geklärt.“

André Kubiczek: „Junge Talente“. Rowohlt, Berlin 2002, 223 S., 16,90 €