: Offene Fragen
Der Dokumentarfilm „ad acta“ befragt Überlebende der Nazi-Euthanasie ■ Von Andreas Blechschmidt
1966 mussten sich die Ärzte Ullrich, Endruweit und Bunke vor dem Frankfurter Schwurgericht wegen der Tötung mehrerer tausend Patienten in den Jahren 1940/41 verantworten. Die drei Angeklagten waren als sogenannte T4-Gutachter im Rahmen des „Euthanasie-Programms“ der Nazis an der Ermordung von Kranken und Pflegebedürftigen beteiligt. Das Programm wurde unter der Bezeichnung T4 geführt, abgeleitet von der Berliner Adresse Tiergartenstraße 4, wo die Zentrale für das Programm untergebracht war.
Im darauf folgenden Jahr wurden die drei Angeklagten freigesprochen. Das Gericht stellte fest: „Die Angeklagten sind davon ausgegangen, dass sie nur bei der Tötung von Geisteskranken ohne natürlichen Willen zum Leben mitwirkten und dass deren Tötung erlaubt war.“ Nach einer internen Statistik der T4-Aktion sind 1940/41 insgesamt 70.273 Menschen ermordet worden. Insgesamt wurde die Zahl der Opfer des „Euthanasie“-Programms bei den Nürnberger Prozessen auf 275.000 geschätzt.
Das Desinteresse der Justiz an den Mördern korrespondiert mit der gesellschaftlichen Ignoranz den überlebenden Opfern gegenüber. Ihnen ist der Dokumentarfilm ad acta von Antje Hubert und Olga Schnell gewidmet. Sie haben Menschen aufgesucht, die als „minderwertig“, „schwachsinnig“ oder „erbkrank“ stigmatisiert wurden und deswegen erst zwangssterilisiert wurden und danach in Heilanstalten zwangsverwahrt wurden.
Mit ad acta greifen die beiden Filmemacherinnen einen Begriff aus der Verwaltung auf, der bearbeitete und abgeschlossene Vorgänge bezeichnet. Dass aber dieses Kapitel nationalsozialistischer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik nicht abgeschlossen ist, belegt der 85-minütige Film.
Sechs Betroffene kommen zu Wort und berichten von ihrem „Überleben“ nach 1945. Elvira Manthey, Paul Eggert und Hans Heißenberg gerieten ins Visier des NS-Gesundheitssystems, weil ihre am Existenzminimum lebenden Familien als „minderwertig“ erfasst wurden: alle drei, damals im Kindesalter befindlich, galten als asozial, arbeitsscheu und minderbegabt. Sie wurden zwangssterilisiert, danach in geschlossene Anstalten überführt. Elvira Manthey entkam zufällig der Ermordung. Dorothea Buck und Conrad Schäfer wurden wegen einer psychischen Erkrankung bzw. eines Sprachfehlers als nicht erbgesund eingestuft und ebenfalls zwangssterilisiert. Hugo Simon schließlich hat seine Mutter verloren, die als „Geisteskranke“ in einer T4-Anstalt ermordet wurde.
Antje Hubert und Olga Schnell porträtieren sechs Menschen, die zunächst selbst das Ausmaß ihrer eigenen Verfolgungsgeschichte begreifen lernen müssen: Elvira Manthey erkannte erst nach 1945, dass sie an dem Tag – sie war damals acht –, an dem ihr befohlen wurde, sich auszuziehen und mit anderen Kindern in einen Keller zu gehen, vergast werden sollte. Hugo Simon erfuhr zufällig, dass ein Erbgesundheitsgericht seinen Hausarzt aufgefordert hatte, seinen Geisteszustand zu begutachten, nachdem seine Mutter bereits ermordet worden war.
Die beiden Filmemacherinnen zeigen, dass sich die Überlebenden in ihrem Recherchewunsch gegen viele Widerstände durchsetzen mussten. Im persönlichen und sozialen Umfeld wollte niemand etwas vom Schicksal derer, die zurückgekommen sind, hören. Aber auch offiziell sind die Überlebenden des „Euthanasie“-Programms von Entschädigungsleistungen ausgeschlossen. Dass die damaligen Experten für die Bundesentschädigungsgesetze ausgerechnet ehemalige T4-Gutachter waren, die sich somit selbst rehabilitierten, ist bis heute keinem Verantwortlichen ein selbstkritisches Wort wert. Umso wichtiger der Film ad acta, der zeigt, dass diese Vergangenheit keineswegs bewältigt ist, nicht zuletzt wegen des Muts der Überlebenden, nicht zu schweigen.
Donnerstag, 20 Uhr, Lichtmeß
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