: Ein Schuss, ein Schrei, ein Schnitt
Kann Kitsch von Wirklichkeit erzählen? Hat ein exzessiver Gefühlsausbruch auch kathartische Wirkung? Und ab wann wird Pathos zum formalen Prinzip? Eine Filmreihe im Arsenal untersucht die Lesarten und Wirkungsweisen von Pathos
Irgendwie machen sie süchtig, die Filme von Douglas Sirk, obwohl sie mit ihren grellen Farben, heftig gestikulierenden Schauspielern und kitschigen Plots auch unerträglich sind. Aber die übertriebene Emotionalität, die sich auch im kleinsten Winkel des Dekors widerspiegelt, offenbart die Verletzungen seiner Helden und kommt ihnen gleichzeitig mit der geballten Wucht aller filmischen Mittel nahe. Sirks pathetische Überformung kann man deshalb nicht einfach mit Übertreibung gleichsetzen, vielmehr ist sie seine ureigene Methode: Ein Schuss, ein Mann fällt tot um, eine Frau in Ohnmacht, und ein Windstoß bläst die Blätter eines Kalenders wieder in die Vergangeneit.
So gehen Sirks Dramen los, die nur die Extreme Leben und Tod, Liebe und Hass kennen. Hoch oben, in himmelblauen Lüften, lernen sie sich in einem luxuriösen Privatjet näher kennen, die einfache, integre Angestellte und der superreiche, verzogene Millionärssohn. „Written on the Wind“ treibt ein derart extremes Spiel mit den Prinzipien Gut und Böse, dass die Stereotypen irgendwann vor lauter Überdehntheit einfach implodieren müssen.
Hinter Lauren Bacalls aufopferungsvollem Verständnis für ihren alkoholkranken Mann lauert ein Abgrund der Scheinheiligkeit und Ichbezogenheit, während sich die drastischen Aussetzer des Gatten immer mehr als fehlgeleitete Hilferufe erweisen, in seiner geradezu unerträglichen Überdrehtheit und Überempfindlichkeit schreit uns die schiere Verzweiflung an. Bei Sirk kann man beobachten, wie Künstlichkeit zur Lupe einer bitteren Wahrheit wird. Kann Kitsch überhaupt von Wirklichkeit erzählen? Kann ein exzessiver Gefühlsausbruch kathartische Wirkung haben? Wann wird Pathos zum formalen Prinzip und zu welchem Zweck?
Unter dem Aspekt der Pathosforschung hat das Arsenal eine Filmreihe zusammengestellt, die die verschiedenen Lesarten und Wirkungsweisen des Pathos aufeinander prallen lässt. Die mit dem Begriff assoziierte Emphase schubst den Zuschauer in alle erdenklichen Gefühlswallungen. So macht es durchaus Sinn, dass auch ein Film von Straub/Huillet den Weg ins Programm gefunden hat. Weil man, um es ganz pathetisch zu sagen, bei ihnen dem Gefühl vielleicht in seiner reinsten Form begegnet.
Straub/Huillet überhöhen durch Entdramatisierung: Texte, die bewusst aufgesagt werden, Laien, die ihren eigentümlichen Sprachduktus behalten dürfen, Figuren, die zu Ideenträgern werde. Durch diese präzise Reduktion wird so etwas wie ein abstrakter Raum installiert, in dem die Gefühle wieder zu sich finden können. So ist Straub/Huillets „Sicilia!“ ein entideologisierter Heimatfilm, der von der ganz banalen Zugehörigkeit zu einem Landstrich erzählt. Ein Mann im karierten Hemd steht kerzengerade neben einem Korb voller Apfelsinen und verteidigt die sizilianischen Esssitten. Und allein die Art und Weise, wie er das Wort „Käse“ betont, verleiht diesem Moment eine gewisse Feierlichkeit. Wenig später wird die Kamera minutenlang über die Landschaft gleiten, die Distanziertheit der Totale lässt eine völlig unpatriotische Verbundenheit mit der Natur erahnen. In dieser Art von Kino wird Pathos zu einem Empfinden, dem sich jeder einzeln und in aller Freiheit überlassen kann.
Von der Entmythologisierung zur Mythologisierung der Natur – in Arnold Fancks „Der heilige Berg“ (1926) wird die Übermacht der Bergwelt durch eine permanente Froschperspektive zelebriert, durch ihre vermeintlichen Bezwinger gewinnt sie sogar noch an Erhabenheit. Fancks angespannter Bergfilm ist ein Beispiel für die bewusste Kanalisation von Gefühlen durch pathetischen Überschuss, der Zuschauer wird zum konditionierten Versuchstierchen und kann nur noch reflexhaft reagieren. Hut ab vor der prä-bognerhaften Skiverfolgungsjagd mit Leni Riefenstahl als weiß erstrahlende Schneegöttin!
Auch Eisensteins Montage der Attraktionen will beim Betrachter bestimmte Effekte und wohl kalkulierte Erregungen erzielen, um ihn zu einer ideologischen Schlussfolgerung zu bewegen. In seinem 1925 gedrehten „Panzerkreuzer Potemkin“ gibt es weder Hauptfigur noch Held oder Heldin, auf die man seine Emotionen lenken könnte. Das Pathos bezieht sich direkt aufs Geschehen, auf das revolutionäre Aufbegehren der Masse, und diese Kraft springt buchstäblich bis heute von der Leinwand über. Die schnellen Umschnitte von der aufgewühlten Menschenmenge auf die starre Ordnung des Militärs verfolgen eine Verkehrung der Verhältnisse, die Ohnmacht schlägt immer mehr in Macht um. Das Pathos wird förmlich in die Abstraktion getrieben, ein Verfahren, das „Panzerkreuzer Potemkin“ zum revolutionären Experimentalfilm und experimentellen Revolutionsfilm machte. Man verlässt das Kino sozusagen mit im Geiste hochgezogenen Fahnen.
ANKE LEWEKE
Die Filmreihe „Pathosforschung“ findet den ganzen April über im Kino Arsenal statt: Potsdamer Straße 2, Tiergarten
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