Brötchen sind Brötchen

Den Supermarkt gibt es nicht mehr – aber einkaufen kann man trotzdem noch. Drei Händler haben eine leere, bereits zum Abriss freigegebene Verkaufshalle im Stadtteil Marzahn wieder zu neuem, provisorischem Leben erweckt. Vorerst zumindest

von CHRISTOPH TROST

Es ist ein trostloser Anblick: Mehrere Fensterscheiben sind mit alten Werbezetteln zugekleistert, vom Schriftzug „Kaiser’s“ kleben nur noch wenige weiße Buchstabenreste, der ehemals leuchtend rote Werbestreifen ist verblasst. Die Warenanlieferung gibt es nicht mehr, in der Einfahrt liegen ein alter Reifen, ein kaputter Stuhl, Müll. Ein leer stehendes, marodes, langsam zerfallendes Fabrikgebäude – möchte man meinen.

Doch drinnen, in einigen Ecken des ehemaligen „Kaiser’s“-Marktes am S-Bahnhof Poelchaustraße im Stadtteil Marzahn, gibt es allem äußeren Anschein zum Trotz Lebensmittel zu kaufen. Wieder. Zwar nicht im früher gewohnten Umfang, aber immerhin.

Betritt man den Flachbau, steht man in einem riesigen, fast leeren Verkaufsraum. Die ehemalige Servicetheke liegt verlassen im Halbdunkel, hinter den halb verrosteten Heizkörpern an der breiten Fensterfront liegen Holz, Papier, leere Dosen. Aufgeräumt wurde hier schon lange nicht mehr – aber das ist den Kunden egal. Die sind froh, dass sie hier wieder das Nötigste zum Leben bekommen. Morgens, auf dem Weg zur S-Bahn, abends, auf dem Heimweg, oder auch mal zwischendurch. Ohne große Wege zurücklegen zu müssen. Und eigentlich gibt es hier, im derzeit wohl ungewöhnlichsten Supermarkt Berlins, auch alles. Fast zumindest.

Zuerst kommt man am Gemüsestand Peter Lembergs vorbei. Aufgeräumt sieht es dort aus, frisches Obst und Gemüse liegen in Kisten, auf Tischen, in Körben. Wie bei einem „richtigen“ Gemüsestand eben – nur ist das Angebot hier nicht ganz so ausladend. Aber das Flair stimmt: Waage und Kasse stehen auf einem Holztisch unter einer rot-weiß-gestreiften Plane, die fast ein klein wenig sonnabendliche Marktatmosphäre aufkommen lässt. Wäre da nur nicht das kalte Licht der Neonröhren, wären da nicht diese leeren Flächen nebenan, wären da nicht die kahlen Wände und Decken. Und wären da nicht die Getränkekisten, die sich hinter dem Gemüsestand stapeln. Denn Peter Lemberg verkauft auch Mineralwasser, Saft, Limonade, Bier. Der Vollständigkeit des Sortiments halber. Fachfremd, sozusagen.

Das Angebot komplettieren Petra und Thomas Schwanz, die ihren Stand wie auch Peter Lemberg Mitte November vorigen Jahres aufgemacht haben. Im hintersten Eck der riesigen Halle steht ihre kleine Bäckertheke, direkt unter den alten, bunten Reklametafeln für Fleisch- und Fischgerichte. Jetzt gibt es dort Brot, Kuchen und knapp zehn Sorten Brötchen zu kaufen. Daneben abgepackte Wurst, eingeschweißten Käse, Marmelade, Joghurt. „Es gibt eben nicht zehn Sorten Joghurt wie in einem großen Supermarkt, sondern nur zwei“, sagt Thomas Schwanz. Außerdem verkauft er Süßigkeiten, Kekse, Knäckebrot und verschiedene Fertiggerichte. Selbst Zeitschriften und Rätselhefte hat er in seinem Sortiment, im Regal nebenan. „Und was fehlt, kann man bestellen“, so Schwanz. Er ist froh, dass er inzwischen einen kleinen Stammkundenkreis aufgebaut hat. „Das reicht zum Existieren“, sagt er.

Vor wenigen Wochen schließlich ist noch Renate Seifert dazugestoßen und verkauft gegenüber, hinter Stellwänden versteckt, unter anderem Haushaltswaren, Geschirr und Putzmittel. Zudem stehen ein paar Kleiderständer im Raum, Jeans gibt es dort, T-Shirts, Pullis, Unterwäsche. Damit ist das Angebot eines „normalen“ Supermarktes eigentlich fast komplett. Nur werden die Waren bei Renate Seifert eben in Wühltischen wie beim Sommer- oder Winterschlussverkauf und auf gewöhnlichen Tapeziertischen angeboten. Außerdem: Die Verkaufshalle ist nicht beheizt.

Zukunft im Container

Aber auch das ist den Kunden egal. Vor allem den älteren Anwohnern, die hier leben, in einem der Wohnblöcke vis-a-vis von Feuerwache und Polizei. Die sind froh, dass sie überhaupt noch eine Einkaufsmöglichkeit vor ihrer Haustür haben. Denn zu den nächstgelegenen Supermärkten, etwa dem am Helene-Weigel-Platz, ist es ihnen schon immer zu weit gewesen. Ingeborg Brüssau, die regelmäßig hier einkauft, ist froh, dass sie zum Einkaufen keine weite Strecke zurücklegen muss. „Das ist schon eine große Hilfe“, sagt die 78-Jährige, die sich aber trotzdem möglichst schnell wieder einen größeren Supermarkt hierher wünscht. „So einen, in dem man einfach alles bekommt“, meint sie. Doch sie ist zufrieden. Ebenso wie Ingeborg Ruhmann, die gleich nebenan wohnt. „Lebensmittel sind eben schon das Wichtigste“, sagt die 77-Jährige.

Der Schock war deshalb erst einmal groß gewesen, als der „Kaiser’s“ an der Poelchaustraße, Ecke Märkische Allee im Juni vergangenen Jahres seine Pforten schloss. Einige Monate später schließlich wurde eine Bürgerinitiative gegründet, wurden auf einer Bürgerversammlung verschiedene Konzepte diskutiert, um dem Kiez möglichst schnell seinen Supermarkt zurückzubringen. Das ist nicht ganz gelungen – doch immerhin wurde die jetzt praktizierte provisorische Lösung gefunden. Bis das Gebäude einmal abgerissen werden und einem modernen Einkaufszentrum Platz machen soll, dürfen die zunächst zwei, jetzt drei Einzelhändler in der leer geräumten Verkaufshalle ihre Waren anbieten. Provisorisch. Mit dreimonatiger Vorwarnfrist sollte der Abriss unmittelbar bevorstehen. Wann das sein wird, weiß allerdings derzeit noch keiner – es gibt Verzögerungen bei den Planungen für das neue Einkaufszentrum. „Wir hoffen, Ende 2003 die Baugenehmigung zu bekommen“, sagt Hans-Joachim Kohl von der zuständigen Momper Projektentwicklungsgesellschaft.

Doch selbst wenn die Verkaufshalle endgültig abgerissen und das Areal zur Baustelle wird, sollen zumindest Petra und Thomas Schwanz sowie Peter Lemberg weiterhin ihre Waren anbieten können – dann eben noch provisorischer als bisher schon: in Containern. Aber immerhin. Ganz so trostlos, wie der Supermarkt von außen aussieht, ist die Lage nicht. Brötchen sind Brötchen. Auch wenn sie provisorisch sind.