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„Wir können unsere Leichen nicht beerdigen“

Arzt im Sperrgebiet: Mustafa Barghuti rechnet mit mehr als 200 Toten, fordert neutrale Beobachter und bittet um humanitäre Hilfe

Barghuti: Reden Sie schnell. Die Batterie meines Mobiltelefons geht gleich zu Ende.

taz: Es kommen seit der Einreisesperre für Journalisten in die von der Armee gesperrten Zonen nur noch bruchstückweise Informationen aus den betroffenen Regionen. Haben Sie konkrete Zahlen über Tote und Verletzte der vergangenen Tage?

Wir wissen nicht, wie viele Menschen gestorben sind, und wie viele Verletzte es gibt. Die Israelis lassen uns nicht arbeiten. Fast alle Ambulanzen wurden gestoppt. Es gibt viele Verletzte, die wir nicht erreichen können. Die Soldaten schießen auf unsere Rettungswagen. Menschen verbluten auf offener Straße. Seit zwei Tagen ist die Strom- und Wasserversorgung komplett unterbrochen.

Wissen Sie, was mit den Verhafteten passiert?

Wir haben aus Gaza Informationen erhalten, dass die Verhafteten – es müssen inzwischen hunderte sein – tagelang ohne Nahrung unter freiem Himmel gehalten werden. Sie sehen, wie das Wetter ist. Seit gestern stürmt es ununterbrochen. Die Temperaturen sinken nachts bis auf nur wenige Grad über Null.

Wie können Sie unter den aktuellen Bedingungen helfen?

Die Israelis haben gestern Razzien in unseren Büros vorgenommen. Wir versuchen trotzdem, von hier aus weiter zu arbeiten. Viel können wir nicht tun. Das größte Problem ist, dass unserer Rettungsmannschaften aufgehalten werden. Die gesamte Stadt liegt unter kompletter Ausgangssperre. Wir haben Herzpatienten und Menschen, die regelmäßig an eine Dialyse angeschlossen werden müssen, Frauen, die vor der Entbindung stehen. Ich weiß nicht, was mit ihnen passiert. Wir rechnen mit mehr als 200 Toten. Allein im Krankenhaus von Ramallah liegen 25 Leichen, die wir nicht beerdigen können.

Rechnen Sie mit Seuchen?

Die Gefahr für Seuchen ist groß, denn es geht nicht nur um die bereits geborgenen toten Körper, sondern vor allem um die, die noch auf der Straße liegen. Dazu kommt, dass wir kein Wasser haben.

Mit welchen konkreten Krankheiten rechnen Sie?

Das könnten vor allem infektiöse Krankheiten sein, vor allem Diarrhö. Es ist schwer abzusehen.

Die Israelis begründen den Beschuss der Ambulanzen damit, dass die palästinensischen Rettungswagen für den Transport von Terroristen und Sprengstoff missbraucht werden.

Natürlich – alle unsere Ärzte und Krankenschwestern sind Terroristen. Sehen Sie denn nicht, was das für eine Verschwörung ist? Die israelische Propagandamaschinerie verbreitet Lügen über Lügen. Wenn unsere Ambulanzen wirklich Terroristen transportieren, warum wehren sich die Israelis dann so sehr gegen internationale Beobachtertruppen? Lassen Sie Leute aus einem neutralen Land rein. Soll uns ein schwedischer Beobachter sagen, ob die Geschichte vom Terroristentransport in den Ambulanzen wahr ist. Aber nein – das wollen die Israelis nicht. Die Soldaten schrecken ja noch nicht einmal davor zurück, auf internationale Friedensaktivisten zu schießen. Erst gestern haben sie sieben Ausländer, die in Bethlehem friedlich demonstrierten, zum Teil schwer verletzt.

Was muss Ihrer Meinung nach als Erstes passieren, um die Situation zu erleichtern?

Wir brauchen sofortige internationale Intervention. Hilfssendungen von Medikamenten, Nahrung, Ärzten und medizinischem Personal. Was hier passiert, ist schlimmer als das Massaker in Sabra und Schatila. Damals ging es nur um zwei kleine Lager. Hier ist die gesamte Bevölkerung mehrerer Städte betroffen, die kein Wasser, keine Nahrung und keine Medikamente hat. Wir brauchen dringend humanitäre Hilfe.

INTERVIEW: SUSANNE KNAUL

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