„Nervös wie eine Katze“

Erstmals nach seiner Krebserkrankung fährt Lance Armstrong wieder bei den Frühjahrsklassikern mit. Das hindert ihn, selbstzufrieden und bequem zu werden

NINOVE taz ■ Chris Carmichael kommt immer wieder ins Stottern. Der Privattrainer von Tour-de-France-Sieger Lance Armstrong steht auf der Zielgeraden der Flandern-Rundfahrt zwischen Frittenbuden und Bierständen und hält ein Sporternährungsprodukt in eine Fernsehkamera. Er versucht dem amerikanischen Publikum zu erklären, warum sein Schützling dieses Produkt und kein anderes braucht, um ein Rennen wie die Flandern-Rundfahrt zu überstehen. Doch ein Marketing-Mensch ist der blasse, rothaarige und etwas scheue Mann aus Colorado nicht. Viel lieber als über Produkte spricht Carmichael über Lance Armstrong und überTraining.

„Sportwissenschaftlich gesehen ist es nicht sinnvoll, dass Lance hier antritt“, erklärt er. „Aber psychologisch ist es wichtig.“ Noch nie seit dem Comeback nach seiner Krebserkrankung war Armstrong so früh in eine Saison gestartet wie in diesem Jahr, noch nie hatte er sich so zeitig solch schweren Prüfungen wie Mailand–San Remo und der Flandern-Rundfahrt unterzogen – und das auch noch mit überzeugenden Resultaten: In San Remo war er mit der Spitzengruppe ins Ziel gekommen, in Flandern hatte er in Chefmanier die erste Verfolgergruppe kontrolliert, um seinem Mannschaftskameraden George Hincapie an der Spitze den Rücken freizuhalten. „Wissen Sie, wir haben seit 1999, seit Lance’ erstem Tour-Sieg, immer die gleiche Vorbereitung gemacht“, erläutert Carmichael. „Aber wenn man immer dasselbe macht, gerät man in Gefahr, selbstzufrieden und bequem zu werden. Deshalb wollten wir in diesem Jahr etwas ändern.“

Und da drängten sich die Klassiker geradezu auf. Zumal: Vor seiner Erkrankung 1996 war Armstrong ein Spezialist fürs Frühjahr gewesen, hatte den Wallonischen Pfeil gewonnen und war bei Lüttich–Bastogne–Lüttich Zweiter geworden. Und noch immer hängt sein Herz an den schweren Eintagesrennen im Norden: „Man ist nervös wie eine Katze, weil es ein gefährliches Rennen ist. Aber das ist ein gutes Gefühl, es stimuliert. Und das bringt einen weiter“, hatte Armstrong am Sonntag vor dem Start der Flandern-Rundfahrt gesagt.

Aus seiner üblichen Routine auszubrechen, das ist ein Aspekt von Armstrongs Frühjahrskampagne; der andere ist der gruppendynamische. Insbesondere in der letzten Saison war Armstrong in seiner eigenen Mannschaft in den Ruf geraten, ein egoistischer Despot zu sein. Nach der Tour hatte er etwa Roberto Heras, der ihm in Frankreich sekundiert hatte, die zugesagte Hilfe bei der Spanien-Rundfahrt versagt und sich lieber in den Urlaub verabschiedet. Diesen Ruf will Armstrong in diesem Frühling aufbessern und den Klassiker-Spezialisten seiner Mannschaft, George Hincapie, unterstützen. „Das ist ein ganz wichtiges Signal an das Team“, sagt Armstrongs Trainer.

Wenn man Carmichael reden hört, spielt in Armstrongs Vorbereitung ohnehin die Psychologie eine wesentlich größere Rolle als die reine Physis, an der es wohl kaum noch etwas zu verbessern gibt. Deshalb sei es für Armstrong auch stets wichtig gewesen, schon vor der Tour de France ein herausragendes Rennergebnis erzielt zu haben. 2000 und 2001 war der Amerikaner Zweiter beim Amstel Gold Race, 2001 hatte er außerdem die Schweiz-Rundfahrt gewonnen. Carmichael: „Es ist eine Gradwanderung, sich nur auf die Tour zu konzentrieren. Wenn man schon einmal gezeigt hat, dass man stark ist, geht man auch mental viel stärker in die Tour.“

Mit einer solchen Aussage will der Armstrong-Coach aber auf keinen Fall Jan Ullrich kritisiert haben: „Ich maße mir nicht an, andere Athleten zu beurteilen.“ Deshalb möchte Carmichael auch nicht Ullrichs Trainingsrückstand und dessen Knieverletzung kommentieren: „Damit beschäftigen wir uns nicht. Wir gehen davon aus, dass er bei der Tour da sein wird und stark sein wird.“ Das Duo Armstrong/Carmichael möchte sich nicht in trügerischer Sicherheit wiegen. Auch wenn Ullrich noch im Freiburger Hallenbad Aquajogging betreibt, während Armstrong auf flandrischem Kopfsteinpflaster den besten Klassikerfahrern der Welt die Stirn bietet.

SEBASTIAN MOLL