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Da sehen Sie’s

Nackte Frauen bei Tracey Emin und in der viktorianischen Kunst. Im Haus der Kunst in München treffen zeitgenössische und alte Akte aufeinander

In den oberen Räumen ist ein Frauenschrei von Emins Video zu hören

von HEIKE ENDTER

Ein Hase sitzt auf einem Teppich im Nirgendwo. Dieser Hase auf Tracey Emins Zeichnung hat einen runden Kopf und sitzt sehr aufrecht. Eine Vorderpfote hat er nach vorn gestreckt, als Gebieter über den Teppich oder womöglich auch als grüßender Hase. Sein Gesicht ist nicht zu sehen. Rechts von ihm kniet eine nackte Frau.

Weil diese und andere Zeichnungen von Tracey Emin innerhalb der groß angelegten Ausstellung „Prüderie und Leidenschaft, der Akt in viktorianischer Zeit“, die zurzeit im Haus der Kunst in München gezeigt werden, kann es sein, dass mehr Herrschaften ihre Bilder sehen, als es sonst geschehen wäre. Die Aktausstellung war zum Beispiel an einem gewöhnlichen und sonnigen Mittwochmorgen sehr gut besucht.

Umgekehrt müssen auch die, die nur Tracey Emins Arbeiten sehen wollen, durch die Räume mit den Akten des 19. Jahrhunderts gehen. Rosa leuchtet von den Bildern die nackte Menschenhaut. Rosa Engelsflügel, rote Blumen. Wenn man von den unteren Räumen die Treppe hochgeht, kommt man schon in einem recht rosaroten Zustand oben an. Geradeaus steht eine nackte Diana aus Marmor. Links hängt eine Zeichnung von Tracey Emin, als Hinweis, was im nächsten Raum geboten wird. Es gibt dort Zeichnungen von ihr. Fotos mit Details ihres nackten Körpers, eine Figur aus weiß leuchtenden gebogenen Neonröhren und ein großes Stück bestickten Stoffs sind zu sehen. Anschließend geht es wieder in die Räume mit den viktorianischen Akten. Ganz hinten läuft ein Video von Tracey Emin in der Endlosschleife. Ihre Ausstellung ist in die andere eingeschlossen, wie die Perle in der Muschel, der Dorn im Hühnerauge, die Marmelade im Pfannkuchen.

Warum dieses Arrangement? Die Pfannkuchenthese. Sie gilt, wenn Tracey Emins Ausstellung innerhalb der anderen als Surprise, als frisches Bonbon, als Anlass für einen Stimmungsumschwung wirkt. Außerdem werden verschiedene Generationen mit verschiedenen Kunstgeschmäckern in einer Ausstellung zusammengeführt. Ein soziologischer Effekt.

Die Perle-Muschel-These gilt, wenn man Tracey Emins Bilder als neu gewachsene Perle innerhalb der alten Kunst empfindet. Wenn man die heutige Kunst also für offener, wahrhaftiger gegenüber einer schwülstigen, verklemmten und deshalb minderwertigen viktorianischen Aktkunst hält. Dafür muss man natürlich eine verklemmte, schwüle Atmosphäre im 19. Jahrhundert in England voraussetzen. Doch in der Ausstellung wird vorgeführt, dass auch damals Männer mit aufgerichtetem und fein verziertem Geschlecht gezeichnet oder Frauen mit gespreizten Beinen fotografiert wurden. Im Unterschied zu Emins Bildern existierten sie zu ihrer Zeit in Skizzenbüchern, Schränken oder Privateditionen. Die Katalogautorinnen und -autoren beschreiben diese Werke so detailreich und ohne Verallgemeinerungen, dass sich die Vorstellung von der verklemmten viktorianischen Gesellschaft ändern kann. Danach wirken Emins Bilder einfach als Demonstration, wie etwa hundert Jahre später von einer in England lebenden Frau nackte Menschen dargestellt werden.

Die Hühneraugenthese ist eine moralische These. Wer Nacktheit als moralisch drückendes Hühnerauge empfindet, kann die Zeichnungen von Emin für einen besonderen Schmerzpunkt halten. Sieht man Emins Bilder, könnte man sich vorstellen, welchen moralischen Aufruhr die viktorianischen Akte zu ihrer Zeit verursachten. Tracey Emin formte zum Beispiel aus Neonröhren die Figur einer nackten Frau, ohne Kopf, die Beine nach oben, die Schamlippen geöffnet wie der Rand eines Gefäßes. In ihren Bildtexten geht es häufig ums Ficken. Solche geöffneten Frauenfiguren kann man als verlockend für Männer oder als sexuell selbstbestimmt verstehen. Tracey Emin wurde als 13-Jährige vergewaltigt. Darauf wird hingewiesen. Daraus ergibt sich auch der größte Unterschied zwischen den ausgestellten Akten: Bei denen des 19. Jahrhunderts geht es um die Lust am nackten Köper. Um gequälte Seelen mit gequältem Körper geht es bei Emin. Vor dem Raum mit Emins Arbeiten hängt ein Text, worin berichtet wird, dass man im 19. Jahrhundert befürchtete, die Aktbilder könnten Gewalt gegenüber Kindern, Jungendlichen und Frauen fördern. In allen oberen Räume ist ein Frauenschrei von Emins Video zu hören. Die moralische Komponente war wohl bei der Kombination der Ausstellungen besonders wichtig. Wie kann man also die Ausstellungskombination verstehen? Sie lässt sich leicht begründen, wenn man einige Vorurteile pflegt. Dreht man die Sache um, ist sie eine Übung im Überwinden von schnellen Urteilen.

Bis 2. Juni im Haus der Kunst in München, www.hausderkunst.de

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