Höre mit Kerzen

Schamanismus, Rituale, psychoaktive Drogen und der Körperkult der „Modern Primitives“: Heute Abend rackern sich in der Volksbühne die postindustriellen Symboliker und Krachmacher Coil an ihrem absonderlichen Referenzsytem ab

Im „Industrial Culture Handbook“ stellt Genesis P-Orridge eine riesige Liste der für ihn und seine damalige Band Throbbing Gristle wichtigsten Bücher zusammen. Es sind vor allem Titel über Serienkiller, schwarze Magie, Verschwörungstheorien, das okkulte Treiben der SS, Paganismus, kurz: Über allerlei Absonderlichkeiten, mit denen sich Menschen mit empfindlichen Psychen lieber nicht belasten.

Mit aller Macht rückte Industrial Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger das verdrängte Kranke unserer Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner Kosmologie und Charly Manson war eh der Allerbeste. Peter „Sleazy“ Christopherson gehörte damals zu Throbbing Gristle, bevor er mit John Balance 1983 einen Act gründete, der aus heutiger Sicht wie kaum ein anderer Verbindungslinien zwischen Industrial und aktueller Elektronikschaffender aufzeigt: Coil. All das, was Coil in den Achtzigern exzessiv verhandelten – Schamanismus, Rituale, psychoaktive Drogen, der Körperkult der „Modern Primitives“ – lässt sich von den Neunzigern bis heute im Goa oder Psi-Trance wiederfinden.

Dass Coil heute in Berlin auftreten, ist natürlich als kleine Sensation zu werten. Sie sagen selbst, dass es ihnen enorm schwer fällt, ihren Sound live sinnvoll zu reproduzieren, und sind überhaupt nur noch sporadisch eine feste Band. Um die Musik selbst wird es heute Abend aber eh nicht so sehr gehen. Es ist ein Mythos, von dem sich Angehörige unterschiedlichster Szenen zwischen Darkwave, Postindustrial und Clicks & Cuts angezogen fühlen werden.

Man gönnt Coil natürlich eine ausverkaufte Volksbühne, denn für die Schaffung dieses Mythos haben sie sich auch gut abrackern müssen. Sie konnten nie einfach nur immer wieder eine weitere Platte aufnehmen, ein innerer Drang befahl ihnen vielmehr dauernd, ein ungeheures symbolistisches Brimborium zu produzieren und stets mit Leuten zusammenzuarbeiten, die wiederum ein komplettes Referenzsystem mit sich herumschleppten. Schon auf ihrem ersten Longplayer „Sscatology“ versuchten sie, aus Samples, orientalischen Klängen, klassischen Elementen, Jazz, tibetanischen Chören, etwas Avantgardistisches herzustellen. Sie schrieben den Soundtracks für Clive Barkers Horror-Kultfilm „Hellraiser“, der dann aber nicht verwendet wurde, genauso wie die Musik für Derek Jarmans „Blue“, und sogar William S. Burroughs war bereit, etwas zusammen mit Coil zu machen. Wie einige andere Postindustrielle auch fanden Coil Mitte der Neunziger dann Aufnahme in die sich formierende Elektronikszene.

Es kam zu Kollaborationen mit Autechre, Atom Heart und Tetsu Inoue. Interessanterweise nahmen Coil bereits 1995 als ElpH eine Platte mit dem Titel „Worship The Glitch“ auf. Heute versteht man unter Glitch all das digitale Gebrutzel, das einem auf den „Clicks & Cuts“-Compilations entgegenweht. Dass ElpH sogar auf dem Raster-Noton-Label unter der Ägide von Carsten Nicolai gelandet sind, ist da nur folgerichtig. Man kann nur froh sein, dass Coil den Sprung ins Jetzt geschafft haben, denn sonst müsste man ihren heutigen Auftritt als „die dunkle Seite des Achtziger-Revivals“ rubrizieren. Und vom Achtzigerrevival haben wir langsam wirklich genug.

ANDREAS HARTMANN

Heute, 22 Uhr, in der Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz 2, Mitte