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Die Großtrappe als Feind der Mobilität

Auf der Strecke Hannover–Berlin von den Großtrappen entführt, ins Umerziehungsnest gesteckt und schließlich zur Einsicht gekommen: Das lehrreiche Schicksal des Lokführers Dieter, der die Vogeljagd zu sehr liebte. Eine Erzählung

Ich bin Lokführer in einem ICE. Immer die Strecke Berlin–Hannover. Und dann wieder Hannover–Berlin; ist praktisch dasselbe – nur andersrum. „Ratong, ratong“, mit 250 Sachen – das macht Spaß! Das ist toll! Das ist Leben! Beinahe wie fliegen, bloß flacher.

Jetzt sind wir im Großtrappengebiet, da müssen wir langsamer fahren, „ratong, ra-tong!“ Statt 250 Sachen, nur 180: Macht keinen Sinn – wir erwischen sie trotzdem. „Pfluff“, macht es immer, wenn wir eine ficken, und ich schalte den großen Lokscheibenwischer ein. Großtrappen sind große Vögel – sonst wären es ja nur Trappen. Und selten sind sie, „ratong, pfluff!“ Und werden immer seltener, „ratong, pfluff, pfluff!“

In Hannover mache ich Pause und freue mich schon auf den Rückweg. Auf dem Hinweg habe ich drei Stück drangekriegt – wie viele werden’s wohl nach Berlin sein? Wieder unterwegs erreichen wir das Naturschutzgebiet und ich bremse ab. Muss ich sowieso – geht alles automatisch. Die Großtrappe ist der natürliche Feind der Mobilität. „Ratong, pfluff!“ Aber nicht mehr lange …

Jetzt stehen da vorne auch noch ein paar Verrückte auf den Schienen und winken. Mit einer Notbremsung bringe ich den Zug auf den letzten Metern gerade noch zum Stehen. Die Verrückten hängen immer noch völlig ungerührt auf meiner superschnellen „Ratong“-Strecke rum. Erst als einer von ihnen meine Tür öffnet und zu mir in den Führerstand steigt, sehe ich, dass er eine Großtrappe ist. Und die anderen auch! So groß hätte ich sie mir gar nicht vorgestellt – im Scheibenwischer werden sie immer ganz klein.

„Aussteigen“, sagt die Großtrappe mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet. Ich steige aus und werde von den anderen umringt. Eine von ihnen, die von allen ehrfürchtig „Mutti“ genannt wird, hält mir ein Großtrappenküken hin, dessen Beinstumpf mit blutigen Lappen umwickelt ist: „Das ist dein Werk“, bemerkt sie bitter. Die komischen Vögel können natürlich nicht richtig sprechen. Sie halten stattdessen ganz schnell Schilder hoch, auf denen die Sachen stehen, die ich jetzt in wörtlicher Rede niedergeschrieben habe. So stand zum Beispiel auf dem Schild der ersten Großtrappe: „Aussteigen“ und in Klammern, „(Duldet keinen Widerspruch)“. Und auf dem Schild von Mutti steht: „Das ist dein Werk“ – und in Klammern, „(Bitter)“.

Sie bedeuten mir, ihnen zu folgen, und wir entfernen uns vom Zug. „Aua, aua“, schreit das Küken die ganze Zeit, und bei jedem „Aua“ schaut mich Mutti vorwurfsvoll an. „Ich habe doch immer extra für Sie gebremst“, lamentiere ich, „das ist sogar Vorschrift!“ Langsam bekomme ich es nämlich ein klein wenig mit der Angst zu tun.

Anstelle einer Antwort deutet eine untersetzte Großtrappe auf die ausgedehnten Gräberfelder, die sich links und rechts des Bahndamms erstrecken. „Ich heiße übrigens Jens-Ove“, sagt der Vogel, als er mein betretenes Gesicht sieht, „kannst ruhig ‚du‘ zu mir sagen.“ „Wir tun dir nichts“, beschwichtigt ein anderes Flügeltier, „wir sind für Einsicht statt Strafe – wir wollen nur mit dir diskutieren, du!“

Als wir in ihrer Kolonie ankommen, ist es schon dunkel. Sie weisen mir ein Nest zum Schlafen zu und wecken mich anderntags mit einem ergiebigen Körnerfrühstück. Bei Tageslicht sehe ich auch, dass fast alle von ihnen grässlich verstümmelt sind. Das tut mir inzwischen sehr leid: Sie sind so gut zu mir, und das bei allem, was ich ihnen angetan habe! Jeden Nachmittag um drei ist Plenum: Da diskutieren wir über alles, was vorgefallen ist und natürlich über meine Schuld und die der Deutschen Bahn AG.

„Ja, Dieter – willst du uns noch was sagen?“, wird das Thema für gewöhnlich eingeleitet, und wenn ich dann sage, wie leid mir alles tut, schauen die Großtrappen ernst und verständnisvoll. Nach ein paar Wochen frage ich, ob ich mal nach meinem Zug schauen könnte. „Du, Dieter“, meint Horst, mein Nestnachbar, traurig, „ich fürchte, du hast immer noch nichts verstanden – wir werden noch sehr lange diskutieren müssen, du.“

Wie recht er hat: Manchmal träume ich nachts von Geräuschen, „ratong, pfluff“, und wache schreiend auf. Wenn Horst das mitkriegt, ist schon morgens Plenum: „Der Dieter will euch was sagen …“ Später – sind’s Monate oder Jahre, ich weiß es nicht – bin ich wohl kuriert. Ich helfe bei der Feldarbeit und beim Brüten.

Jens-Ove, Horst, Mutti und die anderen sagen stolz: „Du, der Dieter ist jetzt irgendwie richtig einer von uns!“ Ich bin eine Großtrappe an der Strecke Berlin–Hannover. ULI HANNEMANN

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