: Zurück in den Charts
Abstrakte Reinheit durch üppige Bilder: Das belgische Vokalensemble Huelgas mit Musik der Renaissance beim „Zeitfenster“-Festival. Begleitet wird es von einer Installation der Medienkünstler Jeffrey Shaw und Bernd Lintermann
Vergessene Musikinstrumente nachzubilden, verschollene Partituren aus den Archiven zu bergen, die Spielpraxis bis in die Phrasierung hinein zu rekonstruieren – darauf haben sich ganze Horden von Musikern in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich eingelassen. Und damit der Musik der Renaissance zu einer zweiten Blüte verholfen.
Heute gehört die alte Musik zum Aufregendsten, was der Klassikmarkt zu bieten hat, mit einem Schwarm überdurchschnittlich guter und engagierter Ensembles, mit einem wachsenden Repertoire und einem fast avantgardistisch-kompromisslosen Selbstverständnis.
In einem Punkt aber ist die alte Musik bislang gescheitert, in der Frage ihrer optischen Ausstattung. Schlosskonzerte: Gott bewahre. Perücken: Igittigitt. Man habe einfach keine Kerzen aufstellen wollen, erklären deshalb die Veranstalter des jüngsten Festival für alte Musik, „Zeitfenster“. Stattdessen räumen sie jeden nostalgischen Dünkel sorgfältig aus; noch das neoneoklassizistische Konzerthaus am Gendarmenmarkt, wo die meisten Veranstaltungen stattfinden, wird mit zeitgenössischen Lichtspielen durchflutet, um den Tand der Geschichte auszublenden. Seinen Höhepunkt erlebt das Projekt der optischen Aktualisierung alter Musik heute Abend in einem Konzert des belgischen Vokalensembles Huelgas mit Musik der Renaissance von Josquin Desprez, Thomas Tallis, Johannes Ockeghem und Guillaume Dufay.
Das Huelgas-Ensemble belagert dabei keine Architektur des 15. Jahrhunderts, sondern das Atrium eines Daimler-Gebäudes am Potsdamer Platz. Die Eingangshalle durfte Rezzo Piano an den Maßen des Mittelschiffes von Notre Dame de Paris ausrichten: 82 Meter lang, 14 Meter breit, 33 Meter hoch.
„Absurd“, nennt der amerikanische Medienkünstler Jeffrey Shaw die Tatsache, dass Mercedes sich einen solchen Raum ins neue Berlin bauen lässt. Aber diese Absurdität ist Schauplatz seiner jüngsten Arbeit: Das Konzert des Huelgas-Ensembles wird hier von seiner 3-D-Installation begleitet. Jeffrey Shaw und sein Assistent Bernd Lintermann lassen dreidimensionale Bilder über den Köpfen des Chors entstehen, die Präsenz und Aura, die ein Live-Konzert auszeichnen, auch optisch einlösen sollen. Das bedeutet zunächst, dass die Computerbilder in Echtzeit, also live und unwiederbringlich, generiert werden, Akustik und Optik nicht – wie im Film oder im Musikvideo üblich – im Medium aneinander gekoppelt werden.
Gleichzeitig, so Shaw im Gespräch, neige die optische Nachgestaltung von Musik dazu, den Abstraktionsgrad von Musik beinah zwangsgsläufig zu zerstören. Und er verweist selbstkritisch auf seine eigenen Arbeiten aus den Siebzigerjahren für Genesis und Pink Floyd. Shaws Bilder sind architektonisch gedacht: Oberflächen, die an Baumaterialien erinnern, Formen, die zu Wänden, Säulen oder Kuppeln heranwachsen, aber auch völlig abstrakte, an Blaupausen des Bauhaus erinnernde Ranken.
Das Computerprogramm folgt den Strukturmerkmalen der Musik. Manchmal ist es nur eine bestimmte Atmosphäre, die als Parallele dient; häufiger zitieren Shaw und Lintermann kompositorische Finesssen. Ein Stück mit vier Chorgruppen à vier Stimmen, das sich schließlich zu einem sechzehnstimmigen Kanon entblättert, findet seine akustische Entsprechung in kühlem Stabwerk, dass die musikalische Vierteilung geometrisch doppelt und durchdekliniert.
In einem der schönsten Momente ihrer Grafik reflektieren Shaw und Lintermann den Raum selbst. Auf dem biomorphen Mauerwerk einer virtuellen Kathedrale zeichnen sich Details des Berliner Atriums ab. Es entsteht der Eindruck, als spiegeltesich der Raum tatsächlich in der glatt gewölbten Oberflächen der Projektion.
Die Bilder, so Shaw, sollten die abstrakte Reinheit der Musik wahren und zwischen der in diesem Raum verschwindenden Größe der Sänger und der Fülle ihrer Stimme vermitteln. Mal sehen, ob das gelingt und die Musik nicht doch der Suggestion dieser technisch-optischen Überwältigung unterliegt.
BJÖRN GOTTSTEIN
Sa, 21 u. 23 Uhr, Atrium DaimlerChrysler Services, Eichhornstr. 3, Tiergarten
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen