: Ein angekündigtes Erdbeben
Der Sieg von Le Pen gegen Jospin ist nicht so überraschend, wie er scheint. Schuld an dem Debakel sind die Sozialisten selbst, die als Regierungspartei ihr Profil verloren haben
Ein angekündigtes Erdbeben ist zumindest keine Überraschung. Jean-Marie Le Pen von der rechtsradikalen „Front National“ hatte schon drei Tage vor der Wahl großspurig verkündet, er sehe durchaus Chancen, den Sozialisten Jospin zu überrunden und in die Stichwahl gegen Jacques Chirac zu gelangen. Le Pen sprach wörtlich von „einem politischen Erdbeben, das Europa erschüttern wird“.
Jetzt ist das Erdbeben passiert. Es fragt sich nur, wen es trifft. Frankreich? Europa? Man sollte das französische Wahlergebnis etwas tiefer hängen. Le Pen hat in der Stichwahl gegen Chirac keine Chance. Dieser wird das Land in den nächsten beiden Wochen mit einer Walze republikanisch-patriotischer Propaganda überrollen und locker 70 bis 80 Prozent der Stimmen einfahren.
Chirac wird sich des Sieges allerdings nicht lange erfreuen können, denn in sieben Wochen folgen die Wahlen zur Nationalversammlung. Die Aussichten, dass dort eine liberal-konservative Mehrheit ohne die „Front National“ zustande kommt, sind eher ziemlich gering.
Im Übrigen sind fassungslose Überraschung und Alarmstimmung deplatzierte Reaktionen auf dieses Ergebnis. Das Potenzial des französischen Rechtsradikalismus liegt seit den 80er-Jahren konstant bei rund 20 Prozent. Nur das für die Wahlen zur Nationalversammlung geltende Mehrheitswahlrecht und die entsprechenden Mauscheleien und Absprachen unter den Parteien verhindern, dass sich Le Pens Wähleranteil auch parlamentarisch niederschlägt. Für ihn ist dieses Wahlrecht eine Art Überlebensversicherung, denn es liefert ihm die Munition für seine Polemik gegen den korrupten Parteienklüngel.
Das Wahlergebnis offenbart zwei Krisen: diejenige des politischen Systems der Fünften Republik und diejenige der Sozialistischen Partei. Was das politische System betrifft, so haben die tragenden Parteien dramatisch an Glaubwürdigkeit verloren. Über 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler gaben ihre Stimmen Kandidaten vom rechten oder linken Rand. Das sind doppelt so viele wie bei den letzten Präsidentschaftswahlen 1995. Zählt man den (gestiegenen) Anteil der Nichtwähler hinzu, so haben drei von fünf Franzosen das personelle Angebot des politischen Systems glatt zurückgewiesen.
Lionel Jospin hat so schlecht abgeschnitten wie noch kein sozialistischer Kandidat in der Fünften Republik. Doch dies Ergebnis ist mehr als nur seine Niederlage. Es ist ein politisches Erdbeben, das vor allem die französischen Sozialisten erschüttert.
Viele Kommentatoren und Parteisprecher fanden die Schuldigen an Jospins katastrophaler Niederlage ganz schnell: Es habe zu viele linke Konkurrenten gegeben, daher seien die linken Stimmen zersplittert. Die unverwüstliche Arlette Laguiller und zwei weitere trotzkistische Kandidaten erzielten zusammen 10, der Linksnationalist Jean-Pierre Chevènement rund 5 Prozent. Dazu kommen noch 2 Prozent für die schwarze Kandidatin des „Parti radical de gauche“ und knapp 4 für den Kandidaten der KP. Die kleinen linken Parteien haben zusammen mehr Stimmen errungen als Jospin – aber an dessen Niederlage sind sie nicht schuld. Die Sozialisten stecken in einer hausgemachten Krise.
Die sieben Jahre sozialistisch geführter Regierung (in der die Grünen eine noch jämmerlichere Rolle spielen als in Berlin) haben vor allem gezeigt, dass deren Politik jeder erkennbar sozialistisch-sozialdemokratische Zug abhanden gekommen ist. Als Jospin sein Wahlprogramm vorstellte, sagte er wörtlich: „Ich bin Sozialist aus Eingebung, aber das Projekt, das ich dem Land vorschlage, ist kein sozialistisches Projekt. Es ist eine Synthese aus dem, was heute notwendig ist, also Modernität.“
Der Kandidat versprach, „anders zu präsidieren“, vermied aber jeden konkreten Hinweis darauf, was er denn anders machen würde als sein liberal-konservativer Hauptgegner. Sein Projekt bestand nur aus leeren Versprechungen („Beseitigung der Obdachlosigkeit“) und Floskeln, die nichts ausdrückten außer der politischen Krise und programmatischen Leere der Sozialistischen Partei. Jospins Wahlkampf war, wie viele Beobachter meinten, von außergewöhnlicher Langeweile gekennzeichnet. Warum sollte man eine solche Partei wählen?
Wenn man die jüngsten Wahlergebnisse in Italien, Hamburg und Sachsen-Anhalt hinzunimmt, so zeigt sich die (west-) europäische Dimension dieser Niederlage. Überall wurden Sozialdemokraten und Sozialisten abgewählt. Das ist mehr als ein Zufall – es verweist auf ein strukturelles Problem sozialdemokratischer Regierungsparteien.
Die französischen Sozialisten sind an die Macht gekommen – das gilt auch für die Schröder-SPD –, weil sie sich an einer ominösen politischen Mitte orientierten und programmatisch „modernisierten“ – das heißt politisch banalisierten. Als sie aus der Mitte für die Mitte zu regieren begannen, verloren sie schnell den bescheidenen Rest an politischem, sozialem und ökologischem Profil. Drei Viertel aller Franzosen meinten vor einer Woche, dass die Programme von Chirac und Jospin „weitgehend identisch“, die Forderungen „austauschbar“ seien.
Die Konturlosigkeit der Sozialisten half den Rechten. Chirac nutzte die Gunst der Stunde nach dem mörderischen Amoklauf eines Arbeitslosen gegen Gemeinderräte in Nanterre und nach den zahlreichen Anschlägen auf Synagogen und machte die innere Sicherheit zum Wahlkampfschlager. Das tat auch Jean-Marie Le Pen, der seine Wahlkämpfe seit über zwanzig Jahren ausschließlich mit den Themen „Unsicherheit in den Vorstädten“ und „Einwanderung“ bestreitet. Und Lionel Jospin lief ins offene Messer, als er den Chirac und Le Pen hinterherrannte und versuchte, deren demagogisch-populistische Forderungen nach mehr Härte, mehr Knast und mehr Polizei noch zu überbieten.
Ein ähnliches Szenario kann sich in Deutschland wiederholen: nämlich wenn die Union mit dem Schüren von Unsicherheit und dem Einwanderungsthema den Bundestagswahlkampf im Herbst bestreitet. Schröder kann aus Jospins Desaster schon mal lernen, was passieren kann, wenn eine sozialdemokratische Regierung darauf mit Imitation antwortet.
Hierzulande gilt die Sozialistische Partei Frankreichs als „links“. Das ist eine Täuschung – trotz der Einführung der 35-Stunden-Woche. Ohne Zweifel gibt es in der Partei einen linken Flügel, der jedoch nicht viel zu sagen hat. Den Eindruck, die französische Partei stünde links von der Schröder-SPD, beruht auf der zuweilen etwas forscheren Rhetorik ihrer wichtigsten Vertreter.
Programmatisch ist sie jedoch in der gleichen Profil- und Orientierungslosigkeit befangen wie die übrigen sozialdemokratischen Parteien in Europa, die vielerlei repräsentieren – nur keine tragfähige Alternative zur neoliberalen Politik von Liberalen und Konservativen. Die Wähler bevorzugen derzeit das Original. RUDOLF WALTHER
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