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Welle der Denunziation

1.-Mai-Krawall: Vor Jahresfrist suchte die Polizei erstmals mit Fahndungsfotos nach Steinewerfern. 35 Gesuchte wurden ermittelt. Aber viele wurden falsch angezeigt. Auch ein junger Polizist aus Hannover

von PLUTONIA PLARRE

Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant. Der Satz von Hoffmann von Fallersleben in den Politische Gedichten von 1843 hat wieder einmal aktuelle Bestätigung gefunden.

Erstmals in der Geschichte der 1.-Mai-Krawalle hat die Polizei im vergangenen Jahr nach den Ausschreitungen in Kreuzberg mit einer groß angelegten Aktion nach mutmaßlichen Steinwerfern gefahndet. 16.000 Plakate mit den Fotos von 85 Frauen und Männer waren bundesweit geklebt worden. Auch ins Internet wurden die Bilder gestellt, die von Polizeivideos herunterkopiert worden waren. Zur Belohnung winkten 1.000 Mark pro Steinewerfernase.

Die Resonanz war überwältigend. Über 500 Hinweise gingen aus der Bevölkerung ein. Inzwischen ist klar, dass sich es sich bei den meisten um eine falsche Verdächtigung handelte. Trotzdem spricht die Staatsanwaltschaft von einem „großen Erfolg“. Immerhin seien 35 Personen identifiziert worden, freut sich Oberstaatsanwalt Jürgen Heinke. Davon seien „circa“ 30 Personen bereits wegen Landfriedensbruchs angeklagt worden. „Circa“ zehn Verfahren endeten mit einer Verurteilung zu Bewährungsstrafen. Präzisere Angaben könne er nicht machen, da er keine Statistik führe, bedauert der Oberstaatsanwalt.

Der Bundesvorsitzende des Republikanischen Anwaltsvereins, Wolfgang Kaleck, kann diese positive Sicht jedoch nicht teilen. Dafür seien zu viele Menschen zu Unrecht beschuldigt worden. „Die Fahnungsaktion“, so Kaleck, „war nichts anderes als ein Aufruf zur Menschenjagd und Denunziation“.

Was das heißen kann, zeigt die Geschichte von Nummer sieben: Auf dem Bild ist ein eine Zigarettte rauchender junger Mann in rot-weißer Sportjacke zu sehen. Allein wegen der zu diesem Bild eingegangenen Hinweise wurden gegen zehn junge Männer Verfahren eröffnet. Ende 2001 wurden diese alle ergebnislos eingestellt.

Der 21-jährige freie Journalist Sascha W. war vermutlich nicht der Einzige, der in Handschellen abgeführt worden war. Einmal war es ein Mitschüler, der seinen Klassenkameraden wieder erkannt haben wollte. Ein anderes Mal bezichtige ein Familienmitglied einen jungen türkischen Verwandten, der als Rowdy bekannt war und öfter ohne Führerschein fuhr.

Sogar ein junger Polizist aus Hannover geriet in das Fadenkreuz: Diesmal waren es die eigenen Kollgen, acht an der Zahl, die den 23-jährigen Polizeischüler Andreas G. als die Nummer sieben widererkannt haben wollten. Der Grund: Andreas G. war ein Außenseiter und wurde häufig gemobbt. Außerdem hatte er eine Freundin in Berlin und fuhr deshalb an Wochenenden öfter in die Hauptstadt. Die Kollegen seien sich 100 Prozent sicher gewesen, dass G. der Gesuchte sei, erinnert sich dessen Anwältin Natascha Seyfi.

Es sei nur deshalb nicht zur vorläufigen Suspendierung gekommen, weil G. darlegen konnte, dass seine Freundin ihn ungefähr zu dem Zeitpunkt in Hannover angerufen habe, als in Berlin die Steine flogen. In Folge des Verfahren wurde G. verwehrt, ein Praktikum beim Sondereinsatzkommando zu machen. Monate später wurden die Ermittlungen schließlich eingestellt: Nachdem sie den Videofilm vorgespielt bekommen hatten, waren die Kollegen sämtlichst von ihrer Behauptung abrückt. „So ein Vorwurf ist für einen angehenden Polizisten der Tod. Erfahrungsgemäß bleibt immer etwas hängen“, befürchtet Seyfi.

Geht es darum, ob die Fahndungsaktion wiederholt werden soll, hält sich Innensenator Ehrhart Körting (SPD) bedeckt. Man wolle zunächst den Verlauf der Ereignisse abwarten, so seine Sprecherin, Henrike Morgenstern. Angesichts der Breitenwirkung solcher Fahndungen müsse es sich um Straftaten „von erheblicher Bedeutung“ handeln.

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