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Grundsätzlich weltunsicher

Der bulgarische Filmemacher Svetoslav Draganov dokumentiert in „Ist das Leben nicht wunderbar“ das Schicksal Alexanders, der als Kind seine Geschwister hütete und nun gerne Meisterfriseur wäre

von DETLEF KUHLBRODT

Schön ist der bulgarische Dokumentarfilm von Svetoslav Draganov. Man ist regelrecht begeistert von dem Hauptdarsteller, einem jungen Mann, der eine sehr schwierige Kindheit hinter sich hat und sich mit großer Begeisterung dem Friseurhandwerk widmet; vom Regisseur – ein Fan träumerischer Fish-Eye-Objektive –, der seinen ganz eigenen Stil durchzieht, ohne seinen Helden zu verraten. Aber wenn man jetzt die Handlung von „Ist das Leben nicht wunderbar“ nacherzählen soll, gerät man witzigerweise in Schwierigkeiten. Im Presseheft ging der Held, Alexander Ivanchev, seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr zur Schule, weil er sich um drei seiner Geschwister kümmern musste und erlernte dann im Waisenhaus den Friseurberuf. In meiner Erinnerung kam er erst mit 10 oder so überhaupt in die Schule.

In jedem Fall hat Alexander Ivanchev sechs Geschwister verschiedener Väter, kümmerte sich jahrelang um drei seiner Brüder, denn die Mutter schob Nachtschichten, vernachlässigte ihre Kinder völlig und lag später krank im Bett. Der Vater, ein Pilot der Sowjetarmee, hatte die Mutter schnell verlassen. Kurz kam er Silvester zurück, als Alexander gerade zwei war, nahm seinen Sohn auf den Arm und schoss mehrmals in die Luft. Danach konnte Alexander fünf Jahre nicht sprechen.

Der Film beginnt mit einem Fest, bei dem Alexander den Conferencier gibt. Er hat Silberpapier um seine Schuhe gewickelt und scheitert beim Versuch, eine Flasche Champagner zu öffnen. Nach dem Fest geht er nach Hause. Eine Weile ist man unsicher, ob die erste Szene eine Traumsequenz war, weil der Gegensatz zwischen dem fröhlichen Fest mit seinen gut gekleideten Gästen und seiner radikal verwahrlosten Wohnung so groß ist. Die Wohnung ist noch krasser als die, in die sich die traumatisierten Kinder in dem japanischen Film „Eureka“ zurückziehen.

Die Wände sind feucht-verrottet, Putz und Tapetenreste blättern ab, überall liegen Müllhaufen, tropfen Wasserhähne. Bei Tarkowski würde man sagen, hier konzentrieren sich Menschen aufs Wesentliche. In echt ist alles Unglück und radikales Nichtzuhause. Krasimir, der Freund der Mutter, ist ein stiller Trinker, der das tätige Leben längst aufgegeben hat, die Mutter trägt die Spuren des Unglücks und wird früher mal schön gewesen sein. Die Kinder wirken früh erwachsen und still. Der vielleicht 14-jährige James, ein Mulatte, versucht dem häuslichen Desaster mit Fußballspielen zu entkommen, Bojidar, der 18-jährige Bruder, studiert an einem Seminar der orthodoxen Kirche. Still, nachdenklich und klug spricht er über das, was den Kindern angetan wurde, was sie ein Leben lang mit sich rumschleppen müssen – eine grundsätzliche Weltunssicherheit – ohne seine Mutter zu denunzieren.

Draganov enthält sich jeden Kommentars, ohne dabei den Dokumentar- in einen Spielfilm umzulügen. Er spricht mit der Mutter, ihrem Freund, Lehrerinnen, berühmten bulgarischen Friseuren, die im Preisgericht großer Friseurswettbewerbe sitzen, an denen Alexander mit großer Begeisterung teilnimmt, ohne je Preise zu gewinnen. Als Friseur ist Alexander eher Durchschnitt. Dass er so selbstvergessen schön beim Frisieren um sein Model tanzt, findet keinen Eingang in die Wertung.

Vielleicht ist Alexander homosexuell. Er sagt, dass er von einem Mann vergewaltigt wurde und seitdem therapiebedürftig sei, aber darüber würde er ungern sprechen, das sei Schnee von gestern und in erster Linie liebe er das Friseurhandwerk. Es ist angenehm, dass der Film die hierzulande überschätzte Frage der so genannten sexuellen Identität nur am Rande streift.

Das Leben ist wunderbar, Regie: Svetoslav Draganov, Bulgarien 2001, 74 Min.

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