: Blauer Brief der Alternativweisen
Die USA könnten als Konjunkturlokomotive ausfallen, befürchtet die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Sie fordert deshalb von der Bundesregierung eine eigene aktive Finanz- und Beschäftigungspolitik. Und baut auf den Druck der Straße
aus Berlin BEATE WILLMS
Ein kräftiger Aufschwung ist in Sicht, aber durch hohe Lohnforderungen und Staatsausgaben gefährdet? „Unfug“, meint die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftswissenschaft. In diesem Tenor, der im Wahljahr zum Allgemeingut von Politik und herrschender Wirtschaftswissenschaft zu werden scheint, steckten „gleich drei grundfalsche Annahmen“. Bei der Vorstellung ihres Memorandums 2002 mit dem Titel „Blauer Brief für die Wirtschaftspolitik“ gestern in Berlin verzichteten die Ökonomen zwar bewusst auf eine eigene konkrete Wachstumsprognose. Sie äußerten aber nicht nur deutlichen Zweifel am derzeitigen Konjunkturoptimismus, sondern zogen auch eine kritische Bilanz rot-grüner Regierungspolitik.
Als unverdächtige Zeugin dafür, dass Skepsis gegenüber der Hoffnung auf den angeblich anstehenden weltweiten Aufschwung angesagt ist, zog Ingo Schmidt von der FHTW Berlin die US-amerikanische Zentralbank heran. Diese erklärt in ihrem aktuellen Konjunkturbericht, das „Tempo der Erholung“ bereite ihr Sorgen. Dafür sah Schmidt auch gute Gründe: Nach dem Ende des Börsenbooms seien nicht nur viele US-Haushalte und Unternehmen überschuldet, auch die US-Regierung selbst müsse eine Nettoneuverschuldung von rund 4 Prozent in den Griff bekommen. „Der Rest der Welt kann deshalb nicht erwarten, dass die USA wieder als Lokomotive wirken“, so Schmidt.
In Deutschland wäre es deshalb „fatal, weiterhin auf eine ruhige Hand zu setzen“, so Jörg Huffschmid von der Universität Bremen. Schließlich habe gerade die Politik der rot-grünen Bundesregierung die wirtschaftlichen Probleme in diesem Land vergrößert. Vor allem die Reform der Unternehmenssteuern bezeichnete er als „Skandal“. Kapitalgesellschaften erhalten durch die Ausschüttung bisher geparkter Gewinne Steuerrückerstattungen in Milliardenhöhe, so dass der Staat bei den Körperschaftssteuern erstmals in der Geschichte draufzahlt. Sinkende Einnahmen, so Huffschmid, bedeuteten aber auch, dass Ausgaben gekürzt werden müssten.
Die Arbeitsgruppe fordert deswegen „eine strukturelle Rückverteilung“. Dabei kämen die Tarifparteien nicht an einer Arbeitszeitverkürzung vorbei: In den vergangenen 10 Jahren sei die Produktivität stärker gewachsen als die Wirtschaft insgesamt. Entsprechend weniger Arbeitskräfte würden gebraucht. „30 Stunden bei weitgehendem Lohnausgleich“, forderte Heinz Bontrup von der Universität Gelsenkirchen. Kleinere Unternehmen bräuchten dabei möglicherweise Lohnsubventionen.
Darüber hinaus fordert die Arbeitsgruppe ein 75 Milliarden Euro teures öffentliches Investitionsprogramm für die Infrastruktur in Ostdeutschland, den Bildungsbereich und einen ökologischen Umbau. Zur Finanzierung könne die Regierung durch höhere Körperschaft-, eine neue Vermögensteuer und anderes auf mindestens 120 Milliarden Euro hoffen.
Bei den Chancen, einen solchen Paradigmenwechsel durchzusetzen, zeigten sich die alternativen Ökonomen deutlich vorsichtiger als in den letzten Jahren. Damals hatten sie auf Rot-Grün gesetzt. Dieses Mal verwiesen sie auf soziale Bewegungen wie das globalisierungskritische Netzwerk Attac. Huffschmid: „Mit dem Druck der Straße ist ein Politikwechsel möglich.“
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