piwik no script img

Seafood aus Hundekadavern

Die Fortsetzung von Brechts altem Lehrstücktheater mit den Mitteln der Unterhaltungsindustrie: An der Schaubühne besorgte Thomas Ostermeier mit einigem Geschick die deutsche Erstaufführung der ziemlich finsteren Trash-Komödie „Goldene Zeiten“

Tanz- und Showeinlagen sorgen für ziemliches Zuschauerglück

von ESTHER SLEVOGT

Irgendwo in Amerika: Die Fabrik, die den Menschen in der Stadt Arbeit gab, wurde geschlossen. Ray, ein junger Arbeitsloser, lebt in einem verkommenen Wohncontainer am Rand. Er und Ehefrau Faye haben gelernt, ihren Besitz einzuteilen, in Dinge, die man verkaufen und Dinge, die man verbrennen kann. Denn es ist Winter, weshalb sie mit der Zeit ihr ganzes Mobiliar zerhacken und verheizen werden.

Ray hört eines Tages Stimmen, die ihm verkünden, dass die Fabrik wieder eröffnet wird. Seitdem hält er sich für auserwählt. Ehefrau Faye, die als Kellnerin in einem abgewrackten Fast-Food-Restaurant arbeitet, beurteilt diese Erleuchtung eher praktisch: „Auserwählt ist wahrscheinlich immer noch besser als arbeitslos!“ Später schleppt sie Bill an, der die Abfall-Idylle von Ray und seinen Freunden Arnie und Phil aufzumischen beginnt.

Der amerikanische Dramatiker Richard Dresser, geboren 1957, hat seine finstere Trash-Komödie „Goldene Zeiten“ genannt. Die deutschsprachige Erstaufführung des Stückes hat jetzt Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne besorgt.

Die Bühne besteht aus einem weißen Wohncontainer von enormen Ausmaßen, halb Ufo, halb Iglu. Jan Pappelbaum hat ihn auf Stelzen in den nachtschwarzen Theatersaal der Berliner Schaubühne gestellt: ein ähnlich klaustrophobischer Ort wie das Arbeitercamp der Fabrik in Dressers „Unter der Gürtellinie“, das Thomas Ostermeier vor vier Jahren noch in der Baracke des Deutschen Theaters inszenierte. Damals blickten geheimnisvolle gelbe Augen von draußen herein. Jetzt ist die Bedrohung konkreter: Wilde Hunde treiben nach Einbruch der Dunkelheit ihr Unwesen. Doch die Menschen sind mindestens so verroht wie diese Hunde, deren Kadaver sie den Restaurants der Umgebung als Seafood verkaufen.

Die Welt, die Richard Dresser uns hier vorführt, ist einigermaßen ungemütlich. In Einkaufszentren verbrennen sich Menschen, um die Eröffnung eines Schuhgeschäfts zu promoten. Und Bill, der Gegenspieler des visionären Ray, verbrennt im Auftrag diffuser Versicherungsbetrüger erst auf Bestellung Autos, dann ganze Häuserkomplexe samt Menschen darin. Am Ende hat die Gier nach Profit die ganze Stadt in Brand und alle Regeln des Zusammenlebens außer Kraft gesetzt. Es herrscht das Gesetz der Wölfe.

Vorläufig ist es noch still. Schnee rieselt auf den Wohncontainer, und im Hintergrund nölt Radiohead eine elegische Ballade. Über die Vorderfront laufen zur Musik als Videoprojektion riesige Buchstaben. Nur mühsam kann man sie zu einzelnen Worten verbinden: „Verbrechen“, liest man also, das Wort „Ausbeuter“ kommt vor.

Viel später am Abend wird uns dieser kleine, einmal sehr berühmte Text wieder begegnen. Da zeichnet sich längst eine dunkle Katastrophe ab, und man muss um die schräge Truppe junger Leute fürchten, die sich in diesem verkommenen Wohncontainer zusammengefunden hat, in Amerika soziologisch unter „White Trash“ verbucht. Am Nachmittag hat in Erfurt ein Schüler das halbe Lehrerkollegium seines Gymnasiums mit einer Schusswaffe niedergemäht. Auch hier hört man im Hintergrund Gewehrsalven, sieht Leute zusammenbrechen, in Videoprojektionen Häuser in sich zusammensacken.

Plötzlich sitzen dann Ray, Arnie, Phil, Crystal, Charly und Faye da und intonieren Bert Brechts „Lob des Kommunismus“: „Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht.“ Phil fidelt Hans Eislers schöne Melodie, Crystal spielt die Blockflöte – ja, das waren Zeiten, als die Welt noch so übersichtlich war. Inzwischen sind die Verhältnisse im gefräßigen, globalen Kapitalismus so undurchschaubar für den Einzelnen, dass die 19.-Jahrhundert-Welt der Fabrik geradezu utopisch wirkt. Damals hatte der Feind wenigstens noch ein Gesicht.

Deswegen ist auch das politische Theater inzwischen ein ziemlich kompliziertes Geschäft geworden. Doch die aktuelle Schaubühnenproduktion zeigt sich dieser Aufgabe einigermaßen grandios gewachsen: die Fortsetzung von Brechts altem Lehrtheater mit den Mitteln der Unterhaltungsindustrie. Nie wird eindeutig, ob der geschilderte Horror wirklich geschieht oder all das nur eine Fernseh-Trash-Soap im brutalen Proleten-Milieu ist. Tanz- und Showeinlagen sorgen für ziemliches Zuschauerglück, um im nächsten Moment den Spaß zu blankem Entsetzen gefrieren zu lassen. Auch der alte Brecht wollte seine Lektionen ja mit Musik und Gesang erträglich gestalten.

Bei Ostermeier kommt die Musik im Wesentlichen vom Band und liefert damit auch Anschauungsunterricht über das traurige Schicksal der Popmusik, die einst den unangepassten Lebensstil als Alternative propagierte und deren Individualismusgehabe inzwischen nur noch lächerliche Maskeraden der Konsumgesellschaft produziert. Almut Eppinger hat Ostermeiers Ensemble als unmündige Popkarikaturen eingekleidet: Mark Waschke (Ray), Bruno Cathomas (Arnie), Faye (Anne Tissmer), Phil (Matthias Matschke), Crystal (Jule Böwe), Lars Edinger (Bill) und Robert Beyer) füllen sie herzzerreißend aus.

Nächste Vorstellungen 29. und 30. 4.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen