: Fremd in der eigenen Welt
aus Erfurt BARBARA BOLLWAHNDE PAEZ CASANOVA
Ja, die Polizei hat Gewalt-Computerspiele in seinem Zimmer gefunden. Ja, er war ein Fan von Heavy-Metal-Musik und Actionfilmen. Ja, er war Mitglied in einem Schützenverein. Doch das allein unterscheidet Robert Steinhäuser, der am vergangenen Freitag im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen erschossen hat, nicht unbedingt von anderen Jugendlichen.
Der Unterschied besteht vielmehr darin, dass der 19-Jährige unter einem Druck gestanden haben muss, der so groß war, dass er ihn von seiner Umwelt forttrieb, ohne dass diese es merkte.
Wegen ungenügender Leistungen war Robert Steinhäuser einmal von der elften in die zehnte Klasse zurückgestuft worden. Freiwillig hatte er nach Angaben der Schule das Jahr wiederholt. Im vergangenen Jahr, kurz vor Beginn des zweiten Anlaufs, flog er wegen Urkundenfälschung von der Schule. Er hatte Krankschreibungen gefälscht. Danach sei er an ein anderes Gymnasium verwiesen worden, sagt das Kultusministerium, es habe auch Kontakt zum Schulamt bestanden. Doch das neue Gymnasium habe Robert Steinhäuser nicht besucht. Den Kontakt zur Schulbehörde habe er abgebrochen. Er war volljährig.
Offenbar hat sich Robert Steinhäuser niemandem mit seinen Problemen anvertraut. Seine Eltern glaubten, er bereite sich auf die Abiprüfung vor. So hatte er es seiner Mutter erzählt, einer Krankenschwester an der Erfurter Hautklinik, die von seinem Vater, einem Ingenieur bei Siemens, getrennt, aber im gleichen Haus lebt. Weil er zum Zeitpunkt der Relegation 18 Jahre alt war, mussten die Eltern nicht informiert werden. Volljährig ist volljährig.
„Rattattattatta, du bist tot!“
Am vergangenen Freitag hat ihm seine Mutter viel Erfolg bei der Abiturprüfung gewünscht. Sie will nichts Auffälliges an ihrem Sohn festgestellt haben, erklärt Polizeileiter Rainer Grube. Tatsächlich verließ Robert Steinhäuser an diesem Tag das Elternhaus in einem gutbürgerlichen Viertel ganz in der Nähe der Schule und kehrte an sein Gymnasium zurück. Bewaffnet mit einer 9-mm-Pistole, einer Pumpgun, 500 Schuss Munition, in schwarzer Kleidung und Gesichtsmaske. Als die anderen ihre Abiturprüfungen schrieben, tötete er in weniger als zwanzig Minuten mit seiner Pistole elf Lehrerinnen und Lehrer, eine Sekretärin, einen Schüler, eine Schülerin und einen Polizisten. Zum Schluss erschoss er sich selbst.
Wer war Robert Steinhäuser? Viele Schüler kannten ihn. Aber offenbar nur einen Teil von ihm. Sie beschreiben ihn als normal, etwas faul vielleicht und desinteressiert an der Schule. Aber durchaus nett. Unauffällig sei er gewesen, manchmal witzig, manchmal arrogant. Nie aggressiv.
Auf einer Klassenfahrt vor zwei Jahren, erzählt Geschichtslehrer Rainer Heise, sei mal was gewesen – seiner Meinung nach ein „dummer Jungenstreich“. Heise hatte am Freitag Steinhäusers Amoklauf gestoppt, indem er ganz ruhig mit ihm gesprochen und ihn später in einen Klassenraum eingeschlossen hatte. Dort erschoss sich Robert Steinhäuser.
Was Heise als „dummen Jungenstreich“ beschreibt, ließ den Biologielehrer, einen der Betreuer auf der Klassenfahrt, erblassen. Robert Steinhäuser hatte sich vor ihn gestellt und „Rattattattatta, du bist tot!“ gesagt. Zurück in Erfurt, hat der Biologielehrer ihm einen Verweis erteilt. Der Biologielehrer ist tot. Der Geschichtslehrer soll das Bundesverdienstkreuz bekommen.
Robert Steinhäuser war kräftig, ein bisschen pummelig. Eine Freundin soll er nicht gehabt haben – ob das für einen 19-Jährigen ein wirklicher Makel ist, sei dahingestellt. Er trieb aktiv Sport, seit 1993 im Handballteam beim SSV Erfurt Nord e. V., dem größten Sportverein der Stadt. Er war zweiter Torwart. Auswechseltorwart. Also kein herausragender Spieler. Doch auch kein schlechter. Denn sein Team, die A-Junioren, ist Erfurts beste Mannschaft. Jahrelang ging er vier Mal in der Woche zum Training. Einmal pro Woche wurde gegen eine andere Mannschaft gespielt. Auch sein sechs Jahre älterer Bruder, der in Schmalkalden studiert, war Handballer beim SSV – erster Torwart. Früher spielte auch der Vater in dem Verein, dessen Vorsitzender seit zwei Jahren der SPD-Bundestagsabgeordnete und gebürtige Erfurter Carsten Schneider ist.
Der 26-jährige Abgeordnete kannte Robert Steinhäuser nicht persönlich. Aber er hat sich in den letzten Tagen mit Handballern unterhalten, die jahrelang mit ihm trainierten und spielten. Mit der Presse sollen die Jugendlichen nicht mehr reden. Es hatte Ärger gegeben wegen eines veröfffentlichten Vereinsfotos, auf dem Steinhäuser zu sehen ist. Jetzt redet der Vorsitzende des Sportvereins für die Spieler.
Carsten Schneider hat alle seine Termine in Berlin vorerst sausen lassen. Sitzungen, die vor dem 26. April wichtig waren, haben keine Bedeutung angesichts der Tragödie in seiner Heimatstadt. Eigentlich hätte er am Dienstag im Haushaltsausschuss, dem er angehört, sitzen müssen. Scharping und der Airbus. „Der muss seinen Arsch selbst retten“, sagt Schneider, und es klingt vielleicht etwas härter, als er es sagen will. Bis Sonntagabend war er „paralysiert“. Doch jetzt „geht es voll nach vorn“. Das ist auch seinem Wortschatz anzumerken.
„Das war wie Bungeespringen“
Der Berufspolitiker, dessen jungenhaftes Gesicht nur durch eine eckige, schwarz gerahmte Brille erwachsen wirkt, will versuchen, sich ein Bild von Robert Steinhäuser zu machen. Zu verstehen. Er erzählt, was ihm die Handballer erzählt haben. Unauffällig sei Robert Steinhäuser gewesen. Nicht aggressiv, nicht mal latent aggresiv, überlegt sogar. „Und im Handball muss man aggressiv spielen“, sagt Schneider. Nein, aufgefallen sei er nicht. Nur wirklich rangelassen habe er nicht jeden an sich. Wenn doch, sei es „etwas Besonderes“ gewesen. „Ein richtiger Freund war er nicht“, so Schneider, „eher ein Kumpel.“ Nach allem, was Schneider über Robert Steinhäuser gehört hat, glaubt er, dass er schizophren gewesen sein muss. „Er muss in einer eigenen Welt gelebt haben, in die er niemanden hineinließ.“ Die Angst, das Abitur nicht zu schaffen, kennt Schneider gut. Wieder findet er deutliche Worte: „Das war wie Bungeespringen ohne Sicherheitsseil.“
Mit Beginn der Saison im September vergangenen Jahres erschien Robert Steinhäuser unregelmäßig zum Training. Dann gar nicht mehr. Anfang dieses Jahres meldete er sich schließlich ab. Er gab an, fürs Abi lernen zu müssen. Da war er längst von der Schule verwiesen worden. Die Handballer aus seiner Mannschaft, erzählt Schneider, hätten nicht gewusst, was Robert seitdem gemacht habe. Und: „Ich kenne die Signale nicht, die er ausgesendet hat.“ Viele Jugendliche in Erfurt kannten ihn. Doch niemand wusste, was er in den Monaten vor seinem Amoklauf gemacht hat. Was bleibt, ist ein weißer Fleck.
Den Mitspielern aus seiner Mannschaft war bekannt, dass Steinhäuser Mitglied in einem Schützenverein war, dem 36 Mitglieder zählenden Erfurter Domblick e. V. Doch das hätten sie nicht bedenklich finden müssen. Schließlich sind nach Angaben des Thüringer Schützenbundes e. V. allein in Thüringen fast 3.000 Schüler und Jugendliche in Schützenvereinen aktiv. Dass er eine Waffenbesitzkarte hatte, sich eine Pumpgun und eine 9-mm-Pistole zulegte, das wussten sie offensichtlich nicht.
Wie oft und wohin ist Robert Steinhäuser zum Schießtraining gegangen? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Klar ist nur, dass er für den Erwerb der Waffenbesitzkarte mindestens ein halbes Jahr lang regelmäßig in einem Verein geschossen und eine Sachkundeprüfung abgelegt haben muss. Und dass er beim Thüringer Schützenbund e. V. nie als Mitglied registriert wurde – obwohl jeder Verein verpflichtet ist, seine Mitglieder namentlich zu melden. „Ich habe die Mitgliederliste, und da ist Robert nicht dabei“, sagt der Geschäftsführer vom Schützenbund, Frank-Dieter Jäcks (58), gegenüber der taz. „Für diesen Schützen haben wir keinen Jahresbeitrag erhalten.“
Die namentliche Nennung aller Mitglieder hat gute Gründe. Zum einen wegen der Versicherung. Zum anderen, „um Einfluss auf die Mitglieder zu haben“, wie Jäcks sagt. Warum die Meldung nicht erfolgte, weiß er nicht. „Das lässt aufhorchen.“ Seit Tagen versuche er vergeblich, den Vereinsvorsitzenden ans Telefon zu kriegen.
Gegenüber den Lokalzeitungen hatte der Vereinsvorsitzende vom Domblick e. V. erklärt, Robert Steinhäuser sei nicht auffällig gewesen, „ein ordentlicher, aber nicht überdurchschnittlicher Schütze“. An den Schützenbund habe er ihn nicht gemeldet, weil er nicht an Wettkämpfen teilgenommen habe. Für den Schützenbund ist das inakzeptabel. „Jedes Mitglied muss gemeldet werden, egal ob es an Wettkämpfen teilnimmt oder nicht. Der Vereinsvorsitzende muss sich einige Fragen gefallen lassen“, erklärt Geschäftsführer Jäcks. Doch es ist nicht zu überhören, dass ihn trotz seiner „Betroffenheit über eine Bluttat mit einer legal erworbenen Waffe“ andere Sorgen umtreiben. „Wir suchen Nachwuchs auch in Schulen“, sagt er. „Der Zug ist erst mal abgefahren.“
Anscheinend hielt sich Robert Steinhäuser auch im Schützenverein im Abseits. Bei den Schießübungen, die die Mitglieder des Domblick e. V. bis zum Oktober vergangenen Jahres an jedem letzten Freitag im Monat in der Schießanlage „Kalkreisse“ machten, war er nie dabei. In die privat betriebene Anlage in einem kleinen Gewerbegebiet im Norden der Stadt gingen sie, weil die eigene Anlage nur für Kleinkaliber ist, die Kalkreisse jedoch für Großkaliber. „Die richtig großen Dinger“, erklärt Hans Meitz, der von Mai 2000 bis Dezember 2001 dort als Schießleiter arbeitete.
„Den kenne ich doch“
Auch Robert Steinhäuser ging in die Kalkreisse – jedoch an anderen Tagen als sein Verein. Und allein. „Fünf- oder sechsmal war er bei mir“, sagt Meitz, der außerhalb Erfurts wohnt, am Telefon. Er, der damalige „Aufsichtshabende“, hat ihm die Leihwaffen ausgehändigt, Geld und Unterschrift kassiert, Anweisungen gegeben und „Feuer-frei-Befehle“ erteilt. „Er hat den praktischen Umgang mit der Waffe bei mir gelernt“, sagt Meitz. Der 47-jährige gelernte Rundfunk- und Fernsehtechniker, der Ende vergangenen Jahres entlassen wurde, weil das Geschäft nicht genug abwarf, wie er sagt, erschrickt nicht über seine eigenen Worte. Im Gegenteil: „Ich habe für Ordnung und Sicherheit gesorgt.“
Robert Steinhäuser beschreibt er als „von der Sache her ruhig“. In seinem Auftreten habe er wie ein Einzelgänger gewirkt. Als er sein Bild in den Nachrichten sah, dachte er: „Den kenne ich doch.“ Damals, im letzten Jahr, habe Robert Steinhäuser einen Kinnbart getragen, und er habe ihn nicht sofort erkannt. „Man versucht, sich ein Bild zu machen“, sagt Meitz, „findet aber keine Anhaltspunkte.“ Zum letzten Mal hat er Robert Steinhäuser im Oktober vergangenen Jahres in der Kalkreisse gesehen. „Ich weiß nicht, warum der Kontakt abgerissen ist“, sagt er.
Dabei ist es nicht schwer, eine Antwort darauf zu finden. Im Oktober passierten viele Dinge: Der Betreiber der privaten Schießanlage wechselte. Der neue erhöhte die Kosten. Eine Stunde „Olympisches Schnellfeuer“ kostet seitdem 17,50 Euro und 50 Stück Munition 9 mm zehn Euro. Der Domblick e. V., so Meitz, suchte sich einen anderen Schießstand. Außerhalb der Stadt. Wo, ist ebenso unbekannt wie der Ort, wo Robert Steinhäuser seitdem zum Schießen hinging. Im Oktober bekam er seine Waffenbesitzkarte, die ihn zum Erwerb einer eigenen Waffe berechtigte. Im gleichen Monat wurde er vom Gymnasium verwiesen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen