: „Keine Befreiung ohne Revolution“
Viele Gruftis sind da. Bei Kuchen-Kaiser gibt es Fußball-Champions-League. Später diskutieren wir über erst- und zweitbeste Freunde und erfahren überrascht von der Plünderung des Plus-Marktes, der einer der rottesten ist: Der ultimative 1.-Mai-Bericht
von DETLEF KUHLBRODT
30. April, 16 Uhr, Kottbusser Tor
Junge Männer stehen an den U-Bahn-Ausgängen vor Kaiser’s und verteilen türkische Flugblätter der „MLKP“. Drei Leute mit Megafon kommen wohl von der Demo für ein polizeifreies Kreuzberg, die um 14 Uhr stattgefunden hat. Auf einer Litfaßsäule am Heinrichplatz protestieren witzige Plakate der KPD/RZ gegen „Pollenterror“. Die Plakate kleben über „Keine Befreiung ohne Revoultion“-Plakaten und werden von einer offenbar dafür zuständigen Frau abgerissen. Sie trägt ein gefärbtes Männerunterhemd, dessen Farbe zwischen Blau und Violett changiert und ihre Brüste wippen.
16.30 Uhr, Mariannenplatz
Am Brunnen mit den drei langnäsigen Feuerwehrsleuten wird der SFB ab 18.55 Uhr über den 1. Mai diskutieren. Sieben Laster mit Sendeequipment säumen den Platz. Ted Geier von den Goldenen Zitronen läuft telefonierend vorbei.
17.20 Uhr, Oranienplatz
Auf manchen Plakaten hatte es geheißen: „Raus aus dem Mief – Rein in den Rock“, auf anderen „Raus aus der Scheiße – rein in den Rock“. Das Motto geht zurück auf den – großartigen – Super-8-Film „Rollo Aller“ von Hening Peschel-bevor-er-kommerziell-wurde. In dem Film spielt der mit den Zitronen assoziierte Rocko Schamoni einen jungen Mofarocker, den die ganze Scheiße ankotzt. In dem Lied zum Film heißt es aber „Raus aus der Gesellschaft – Rein in den Rock“. Man trinkt Bier oder/und kifft. Am Rande auf den Bänken sitzen ältere Trinker und Drogenleute. Eine Frau von der „Initiative Leben“, die das Todesfasten der politischen Gefangenen in der Türkei gegen Isolationshaft unterstützt, hält eine Rede. Das Motto der Initiative heißt: „Drei Türen auf – Drei Zellen verbinden“. „Wir alle müssen den Sieg gewaltsam erringen!“
19.20 Uhr, Oranienplatz
Auf der Bühne gibt jemand bekannt: „Die Sudetendeutschen sind die fünfte Kolonne Hitlers.“ S. sagt, ihre Mutter ist Sudentendeutsche und hätte nie was für Hitler übrig gehabt. Meine Mutter ist auch Flüchtling. Viele trinken Sekt. Auf der Bühne sind Fettes Brot. Gegen 20.30 Uhr spielen sie „Schwule Mädchen“ mit Mitsingen. Die Atmosphäre ist super. Viele Gruftis sind auch da. Bei Kuchen-Kaiser gibt es derweil Fußball-Champions-League. Dass die kommerziell erfolgreicheren HipHopper vor den Goldenen Zitronen spielen, ist eine Reverenz an die integerste Band Deutschlands. Weil sie nie Jugendkult gemacht haben, wirken die Zitronen auch nie alt. Im Gedränge kann man nicht umfallen. Disharmonisch geht die Muik nach vorn. „Meine kleine Welt“ kennt jeder. Um 21.17 Uhr begleitet Peaches die Band ein Stück lang. Sie hat superenge Jeans an und alle sind begeistert. Gegen viertel vor zehn die zweite Zugabe: „Das bisschen Totschlag“: Nach der Demo morgen, die eine tolle Party werden soll, soll man ins WMF gehen. Im berühmtesten Club Berlins wird die Nach-der-Revolutions-Party stattfinden. Auch dies deutet darauf hin, dass es wieder schick ist, sich politisch zu positionieren. Um kurz nach zehn bei Bekannten diskutieren wir über erst- und zweitbeste Freunde und sind überrascht, als wir von der Plünderung des Plus-Marktes erfahren, der einer der rottesten Berlins ist.
1. Mai, 2.30 Uhr, Prinzenstraße
Ein weißer Cadillac mit abgedunkelten Scheiben fährt vorbei. Wahrscheinlich Dr. Motte oder Udo Lindenberg.
14 Uhr, Skalitzer/Prinzenstraße
In einem Polizeiautoanhänger bellen Hunde. Die Oranienstraße ist fast so voll wie Bangkok. Auf die Straße hat jemand mit Kreide geschrieben: „An alle Antifa: Wir lachen über Euch und ihr merkt es nicht mal.“
15 Uhr, Mariannenplatz
Sigrid hat Familie mit Kindern und gibt mir einen Zettel: „STOPP Mit den Kürzungen an unseren Kindern! Wir fangen an, uns zu treffen am Kottbusser Tor Donnerstag 16 Uhr ab 23. Mai. Nehmt Euch 10 Minuten frei!“ Hinter dem Bethanien kiffen zwei türkische Jungs unter der Parole „!!! – Smoke THC“. Es riecht nach Regen, und Christian Ströbele ist so hellblau wie immer. Auf dem T-Shirt einer jungen Frau steht: „Wenne Mittwochs überlebst, ist Donnerstag“. Die Stimmung ist sehr angenehm. Aus offenen Fenstern in der O-Straße gibt’s „die Internationale“ sowie Aufnahmen vergangener 1.-Mai-Unruhen. Ohne Kampfuniformen sehen Polizisten teilweise nett aus.
16.50 Uhr, Görlitzer Bahnhof
Eine Kolonne vorbeifahrender Polizeiautos wird von betrunkenen Punkern um die 40 verhöhnt. „Ist das da nun die 13- oder die 16-Uhr-Demo?“ – „Keine Ahnung.“ 17.40 Uhr. Niemand stimmt ein in die Parole „Aufruhr, Widerstand, es gibt kein ruhiges Hinterland.“ Zwei junge Männer probieren, ob ihre Hasskappen auch passen.
18.15 Uhr, Alexanderstraße
Zwischen Kreuzberg und Rosa-Luxemburg-Platz sind fast alle Straßen gesperrt und leer bis auf die Großaufgebote der Polizei. Die meisten Wannen stehen auf dem Parkplatz der Autovermietung „europcar“ hinter Mietwagen mit Ché-Guevara-Bildern und dem Slogan: „Auch du kannst Großes bewegen“. Man fühlt sich wie ein Fußballzuschauer, der nur einen kleinen Teil des Spielfelds sehen kann.
18.45 Uhr, Rosa-Luxemburg-Platz
Großes Gedränge. Die Rednerin der AAB erklärt den Kapitalismus so, dass es auch jeder versteht. Dreimal unterbricht sie ihre Rede mit einem „Scheiße, bin ich nervös … „ Danach freut sich Jutta Ditfurth darüber, dass „alle Befriedungsversuche gescheitert“ seien. Ihre Rede richtet sich gegen die „konterrevolutionäre“ bzw. die Einheitspartei aus „CDUSPDFDPGRüne und Teilen der PDS“ bzw. gegen den „stinkenden Schoß der Bourgeoisie“. Begleitet von einem fröhlichen „Deutschland muss sterben“ zieht die Demo um halb acht los.
19.40 Uhr, Oranienstraße
Dieter Kunzelmann beobachtet das Geschehen auf der O-Straße. Erwartungsvoll harren die Menschen der Dinge. An der Dresdner Straße lösen vielleicht Zehnjährige Pflastersteine aus dem Sand, nehmen sie aber nicht mit. Ein langer Schwarzer mit einem kleinen Weißen provoziert Polizisten auf dem Oranienplatz. Yvette erzählt davon, wie nett und fröhlich sie früher in Halle den 1. Mai gefeiert hätten.
22.15 Uhr, Wiener Straße
Kundgebung der KPD/RZ vor der Feuerwache in der Wiener Straße. Wegen Aufruhrs kann die Demo nicht losziehen. „Wir werden gewinnen, denn: Wir sehen besser aus und wir hören die bessere Musik.“ Später kracht es häufig. Manchmal bricht das Handynetz zusammen. Für viele ist es auch eine Mutpobe, möglichst lange mit dem Wegrennen zu zögern.
23.30 Uhr, Admiralstraße
Auf der Admiralbrücke spricht uns ein ein schwarz gekleideter Typ Ende 30 an. Zustimmungsheischend wettert er gegen die Polizisten. Vermutlich ein Zivi. Bei einer kleinen Unruhe rennt er weg. Ein Betrunkener am Wok-Imbiss erregt sich: „Du wirst automatisch eingekesselt, obwohl du eigentich nur gemütlich herumsitzen wolltest.“
0.30 Uhr, Baerwaldstraße
Auf dem Polizeiauto steht: „Polizei. Der Beruf. So interessant wie das Leben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen