Der Beobachter

„Das ist so ein Tag, wo man sich fragt, was es bringt.“ Peter Grottian – Initiator von „Denk Mai neu“ – versucht, überall zu sein. Doch auf den ersten Blick scheint es, als hätten die Ideen des Professors wenig in Bewegung gebracht

Am Mittwoch stand einer auf verlorenem Posten: Peter Grottian heißt er. Seines Zeichens ist er Professor der Politologie. Nebenberuflich auch jemand, der sich einmischt.

„Denk Mai neu“ war in den vergangenen Monaten seine Devise gewesen. Statt harter Polizeilinie wurde von ihm ein polizeifreier 1. Mai in Kreuzberg gefordert. Statt mit Krawall sollte der Tag der Arbeit auch von den Eintagsrevolutionären wieder mit politischen Inhalten gefüllt werden. Mit seiner Intervention ist er „erfolgreich gescheitert“. Am Mittwoch war er als beobachtender Privatmann unterwegs. Morgens im Osten, mittags in Kreuzberg, nachmittags in Mitte, nachts im Kiez.

Auf der Brücke, die über die S-Bahn an der Falkenberger Chaussee in Hohenschönhausen führt, steht Grottian zwischen der Demonstration der Neonazis und der Antifa. Auf Sichtweite aneinander herangekommen sind die zwei Gruppen, getrennt nur von Polizeiautos und ein paar Polizisten. „Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Attentat“, skandieren die Faschisten. „He, das ist unsere Parole“, protestieren die Antifaschisten. „Eure Eltern sind unsere Geschwister“, brüllen die Nazis zurück. Verwundert über so viel mögliche Tuchfühlung, wagt keine der beiden Gruppen mehr als verbale Beschimpfung.

Zwischen den Fronten tummelt sich die Presse und der Professor. Grottians wohlbeleibte Statur und seine ärmellose Trachtenjoppe zeichnen ihn als Individualisten unter den hier Versammelten aus. Ratlos hält er sich an das Sichtbare, konstatiert Alter und Geschlecht der Jungnazis und macht sich Gedanken darüber, dass das Ego in der Gruppe ins Überdimensionale steigerbar ist. Am Handy aber kommentiert er für die Medien die Ereignisse in der Walpurgisnacht und bestätigt die besonnene Strategie der Polizei.

Auf dem Weg zum nächsten Ort stellt Grottian in der S-Bahn fest, dass es nur wenige Gegendemonstranten nach Hohenschönhausen gezogen hat und dass die Zurückhaltung der Polizei in der Nacht gezeigt habe, von wem die Gewalt ausging. Mythenbildung an dieser Stelle ist zwecklos.

Am Oranienplatz haben sich derweil die Revolutionären Internationalen Marxisten versammelt. Sie sitzen im Gras zwischen Löwenzahn und Müll. Wenig Anhänger konnten sie mobilisieren, weil diese Hundertprozentigen, deren wichtigste Forderung neben der Weltrevolution bis vor kurzem die Freiheit für den Kopf der peruanischen Terrorgruppe „Leuchtender Pfad“ war, nicht überzeugen. Grottian, meist mit Überlegen oder Telefonieren beschäftigt, weiß, dass sie erheblich zum Scheitern seiner Initiative beigetragen haben.

Am Rosa-Luxemburg-Platz, der nächsten Station, herrscht um 16 Uhr fast gähnende Leere. Eine Kundgebung ist geplant. Als die Veranstaltung mit Verspätung beginnt, wird Grottian am Mikrofon nicht müde, dafür zu werben, den 1. Mai neu mit politischen Inhalten zu verknüpfen. „Verarmung der Stadt“ und „kein Krieg“ wäre ein Minimalkonsens, auf den sich die anderen Diskutanten jedoch nicht festlegen lassen. Die Vielfalt der Bewegung zeigen, dies sei politisch, wurde argumentiert.

Als sich die Demonstration drei Stunden später in Bewegung setzt, sagt Grottian mit Handy am Ohr, dass es schlecht aussehe. In Kreuzberg gab es bereits wieder Krawall.

Als schwere, dunkle Masse ziehen die etwa 10.000 Demonstranten los. Einer trägt eine kleine Fahne mit „Destroy Fascism“. Ein anderer will: „Gratis Schwimmbad für alle.“ Das größte der drei Transparente aber fordert: „Unentfremdete Arbeit für alle, die es wollen. Sozialismus sofort.“ Ein Freund Grottians zeigt auf das Plakat und sagt: „Siehst du, da führt deine Saat hin.“

Grottian reiht sich am Ende der Demonstration ein, da es dort oft schneller brenne. Befrieder, Kümmerer will er sein. Die meiste Zeit jedoch ist er vor allem Professor und Freund und wird von Studenten belagert.

Die Demonstration wird umgeleitet, vor den Toren Kreuzbergs für beendet erklärt. Die Straßen nach SO 36 sind von der Polizei blockiert. In der Waldemarstraße brennen Autos, an der vorderen Front hagelt es Steine, den Demonstranten bleibt nur der Weg zurück. Zum ersten Mal zeigt Grottian seine Enttäuschung. „Das ist so ein Tag, wo man sich fragt, was es bringt.“

WALTRAUD SCHWAB