Siegesfeier mit bösem Geist

Borussia Dortmund gewinnt mit 2:1 gegen Werder Bremen, wird dadurch deutscher Fußball-Meister und muss sich selbst nach Saisonende weiter verteidigen – gegen die Schönspieler aus Leverkusen

aus Dortmund FRANK KETTERER

Norbert Dickel konnte einem leid tun. Immer flehentlicher klang seine Stimme, und doch wurde sein verzweifelter Ruf immer weniger erhört. „Bitte bleibt auf euren Plätzen! Bitte bleibt auf euren Plätzen!“ Aber wer wird denn schon brav auf seinem Platz sitzen bleiben, wenn die Borussia gerade deutscher Meister geworden ist – durch einen finalen 2:1-Sieg gegen Werder Bremen und zum sechsten Mal in der Vereinsgeschichte? Nein, nein: Anspannung und Druck der zurückliegenden 90 Minuten, mehr: der ganzen letzten Woche mussten sich einfach entladen – und sie taten es an jener Stelle, an der wohl die endgültige Wahrheit der zu Ende gegangenen Saison liegt – drunten auf dem Platz des Westfalenstadions. Die Spieler Amoroso, Dede und Ewerthon, die Spielkinder aus der Brasilien-Fraktion der Borussia also, waren die ersten, die nicht mehr an sich halten konnten und eine weitere Jubelrunde drehten, außerhalb des Protokolls und noch bevor man ihnen die Schale in die Hand gedrückt hatte. Speziell zur Südtribüne zog es sie, jener fantastischen gelb-schwarzen Steilwand, in der der lauteste Bienenschwarm der Welt beheimatet ist. Dort deutete man den Besuch der frisch gekürten Meister offensichtlich als Aufforderung, auf Stadionsprecher Dickel zu pfeifen – und endlich das zu tun, was sich für eine richtige Meisterfeier geziemt: den Rasen zu stürmen.

Was folgte, war eine orgiastische Fußball-Fete, die es an Intensität locker mit der vorangegangenen Partie aufnehmen konnte, was keineswegs so leicht war, wie es zunächst klingt. Denn auch wenn das finale Spiel nicht wirklich hochklassig war, an Emotionen, an Spannung und Dramatik war es kaum zu übertreffen. Das hatte zum einen damit zu tun, dass beide Mannschaften mit offenem Visier kämpften und auf taktisches Geplänkel nahezu verzichteten: Dortmund stürmte und drängte meist leidenschaftlich nach vorne, Werder verteidigte nicht minder enthusiastisch, was zur Folge hatte, dass das das Summen und Brummen des Bienenschwarms in der Steilwand immer lauter und eindringlicher wurde, zumal sich die Erlösung spät erst einstellen sollte: Beim 0:1 durch Salteri (18.) war plötzlich Leverkusen wieder Meister; beim 1:1 durch Koller (41.) immer noch. Erst als Borussen-Trainer Matthias Sammer nach 73 Minuten Ewerthon für Heinrich brachte und dieser Ewerthon genau eine Minute später das 2:1 schoss, stand die Borussia wieder vor dem Ziel ihrer Träume – und all die summenden und brummenden Bienen kurz vor dem Ausschwärmen.

„Wir haben immer an uns geglaubt und bewiesen, wie stark diese Mannschaft ist“, sagte später Jürgen Kohler, der Fußballgott, den sie schon vor dem Spiel unter Tränen in den Ruhestand verabschiedet hatten. „Als großes Geschenk“ empfand auch Dede den Titelgewinn. Vor drei Wochen war er noch mit Meniskusschaden im Krankenhaus gelegen, nun feierten ihn zu Hause, in den Straßen von Bello Horizonte, die Menschen, seine Familie, so ließ er wissen, hatte die Fete organisiert. „Mein Vater ist bestimmt schon besoffen“, vermutete Dede, ehe er sich selbst eine weitere Flasche Bier schnappte.

Ganz so freudentrunken präsentierten sich freilich nicht alle in der großen Borussen-Familie. Vor allem in der Ecke von Manager Michael Meier ging es eher gediegen zu, bisweilen gar ernst und nachdenklich. Dort war plötzlich Leverkusen zu Gast, der große Konkurrent, und Meier hatte alle Mühe, den bösen Geist des „Meisters der Herzen“ wieder zu vertreiben. „Das ganze Gequake über verdient oder nicht verdient ist doch völlig an der Realität vorbei“, befand der Borussen-Manager, der zwar Verständnis dafür zeigte, dass so ziemlich ganz Fußballland „Mitleid“ hat mit dem fabelhaften Zirkus Calli, andererseits nicht verstehen kann, warum das unbedingt auf Kosten der Borussia gehen soll. Eine „Glorifizierung“ werde da, auch von den Medien, betrieben, kürzlich habe er gar vom kleinen Leverkusen und dem reichen Dortmund lesen müssen. „Lächerlich“ findet Meier solche Parolen.

So wurde die Ansprache des Managers immer mehr zur Verteidigungsrede, von der Sorte, wie auch Trainer Sammer zuvor schon eine hatte halten müssen. Ob es ihn störe, dass Leverkusen stets für den besseren Fußball gelobt werde, wurde der gefragt. „Ich war eher beruhigt. Weil ich weiß, dass der schönste Fußball nicht der erfolgreichste ist“, hat Sammer geantwortet. Es klang so, als könne er mit diesem Wissen ganz gut leben.