: bernhard pötter über Kinder Diagnose: Onkelsyndrom
Vor kleinen Kindern beginnen selbst gestandene Menschen zu lallen. Der infantile Imperativ regiert
Bei Onkel Julius ist es besonders schlimm. Jedes Mal, wenn er uns (und das heißt: unsere Tochter Tina) besucht, unterzieht er sich einer radikalen Persönlichkeitsveränderung. Aus dem Abteilungsleiter eines mittelschweren Konzerns, der Millionen bewegt und seine Mitarbeiter gnadenlos springen lässt, wird ein willenloser Wicht. Ganze Nachmittage liegt er auf dem Teppich vor unserer sieben Monate alten Tochter. „Dutzidutzidutzi“, klingt es unaufhörlich aus dem Kinderzimmer. „Na, wo isse denn? Ja, wo isse denn?“
Wir sitzen in der Küche und lauschen, wie Tina ihn gurrend um den Finger wickelt. Ein klarer Fall von Onkel- oder auch Tantensyndrom. Die Infektion beginnt mit dem Ausruf „Ach, ist die süüüß!“ und führt dann über das obligatorische „Killekille“ zum Schnalzen, Quieken und Grunzen.
So grassiert die kindsbedingte Demenz. Wahllos streckt sie Verwandte, Bekannte und Wildfremde nieder. Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel: Warum senken gestandene Menschen im Angesicht eines Säuglings ihre intellektuellen Fähigkeiten nahe an den Nullpunkt?
Zugegeben: Wir sind auch nicht frei von nachwuchsbedingter Verblödung. Für ein Lächeln unserer Tochter schneiden wir Grimassen, bis der Arzt kommt. Mutter Anna atmet mit ihrer Tochter Milliarden von Hausstaubmilben auf dem Boden und jongliert mit Plastikspielzeug, das sicherlich giftiges PVC enthält. Ich ziehe Spieluhren auf, die nach den neuen Sicherheitsgesetzen als terroristische Bedrohung gelten. So etwas tut nicht, wer seine Sinne beisammenhat. Aber wir sind ja auch nicht das Maß. Wir sind überlastet und schlafen nur noch auf dem Weg zur Arbeit. Wir leben vom Elterndoping, das uns mit körpereigenen Hormonen, Endorphinen und Schokoriegeln aufrechthält. „Pro Kind verliert man zehnmal so viele Hirnzellen wie bei einem Vollrausch“, ist Anna überzeugt. Genauso fühlen wir uns auch manchmal.
Fazit: Eltern sind nicht zurechnungsfähig. Und wir kriegen, was wir wollen. Wir lieben die Regression. Gern klappern wir uns stundenlang mit Holzrasseln in Trance. Wir wühlen bis über beide Ellenbogen im Matsch, wir stapeln Legosteine zu imposanten Gebirgen des Nichts. Alle leben in der Spaßgesellschaft? Wir wollen unseren Anteil daran. Die lustvolle Infantilisierung im Kinderzimmer ist unsere Antwort auf Guido Westerwelle.
Aber warum benehmen sich die anderen wie auf Droge? „Kindchenschema“, rufen die Evolutionsbiologen in unserem Bekanntenkreis. „Wir können gar nicht anders, als euer Kind zu umhegen. Wir sind genetisch darauf gepolt, kleine Kinder süß zu finden.“
Wenn das so ist, sollte die Mehrheit der Bevölkerung vielleicht mal zum Gentest. Denn als pawlowsche Elternversteher sind sie mir noch nicht begegnet, wenn ich mit schreienden Kindern und einem überladenen Kinderwagen am Fuß der defekten Rolltreppe stehe. Es muss da noch etwas anderes geben.
Gibt es. Es regiert nämlich der infantile Imperativ: Werdet wie die Kinder! Werft den Ballast der Zivilisation von euch, findet zum Kind im Mann und zum Schweinehund in der Frau! Schreit, wenn ihr etwas nicht bekommt! Schafft euch Hunde an, wenn ihr eure Duftnoten nicht mehr mit den selbst gefüllten Windeln setzt! Kauft euch ein Auto, um ungestraft im privat-öffentlichen Raum an der Ampel in der Nase zu bohren! Wer noch Defizite beim Klettern und beim Sahnetortenwerfen hat, wird Aktivist bei Greenpeace. Und wer immer nur der langweilige Musterschüler war, darf sich mal im Bundesrat als Rumpelstilzchen aufführen.
Das Konzept der Kindheit ist eine Erfindung des bürgerlichen Zeitalters. Die Idee, dass Kinder sich frei und spielerisch entwickeln können, gilt erst, seitdem man Kinder in unseren Breiten nicht mehr als billige Arbeitskräfte auf den Höfen und in den Fabriken braucht. Vorher waren Kinder praktisch kleine Erwachsene. Heute dagegen gibt es praktisch nur noch Kinder. Erwachsene sind nur große Säuglinge. Zumindest sind die Grenzen fließend.
Tina wiederum benimmt sich teilweise sehr erwachsen. Nein, diesen Keks gebe ich ihr nicht – zack, habe ich ihre rechte Gerade am Kinn. Und perfekt beherrscht sie das heimtückische Doppelspiel: Beim Wickeln lächelt sie mich so honigsüß an, dass mir ganz warm ums Herz wird. Das Gefühl geht gar nicht mehr weg. Dann merke ich: Genau da hat sie mir hingepinkelt.
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