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neue filme I am Sam

USA 2002, Regie: Jessie Nelson; mit Sean Penn, Michelle Pfeiffer, Dakota Fanning u. a., 130 Min.

Man sieht eine Versuchsanordnung: Was gehört dazu, was gehört nicht dazu? Die Hände des Probanden gehören zu Sean Penn. Penn spielt Sam, den geistig behinderten Erwachsenen, der die Welt wie ein Siebenjähriger wahrnimmt und zudem Symptome von Autismus aufweist. Die Kamera heftet sich an die Mienenakrobatik des Schauspielergesichts, das darzustellen versucht, wie sich Sam als von freundlichen Chefs geduldete Hilfskraft bei „Starbucks“ seinen Job organisiert: Tütchen zu Tütchen, Becher zu Becher. Den geistig behinderten Sam bringen die Liebe seiner Tochter und die Lieder der Beatles („All You Need Is Love“) in die Nähe des Sorgerechts. Denn im ideologisch-melodramatischen Universum dieses Films ist Liebesfähigkeit alles, was Menschen bleibt, die den Intelligenzanforderungen der Normalgesellschaft nicht entsprechen.

Sams besonderes Problem: Ihm soll die siebenjährige Tochter (Dakota Fanning) in dem Moment genommen werden, als sie seinen angenommenen IQ-Level überschreitet. Und weil der Umstand, dass die beiden sieben Jahre allein zusammengelebt haben, ohne dass sich die staatlichen Behörden daran gestoßen hätten, ohnehin schon reichlich unwahrscheinlich ist, willigt auch noch eine gestresste Staranwältin (Michelle Pfeiffer) ein, kostenfrei sein Mandat zu übernehmen. Da sie ebenfalls ein Kind hat, dem sie allerdings weitgehend entfremdet ist, fällt ihr im Laufe des Prozesses um Sams Sorgerecht auf, dass sie ihrer Mutterrolle nicht gerecht wird. Schaut her, sagt dieser Film, lernt von den Zurückgebliebenen. Grausam konsequent steuert Sean Penn mit aufgerissen-traurigen Augen, fahrig-hölzernen Körperbewegungen und verstrubbeltem Haar durch das ganze gestische und mimische Repertoire, das die Filmgeschichte für Rollen wie diese angelegt hat: Dustin Hoffman in „Rain Man“, Harrison Ford in „Regarding Henry“, Tom Hanks in „Forrest Gump“ und viele mehr. Dabei stützt er sich, um überzeugend zu wirken, gemeinhin auf das Alltagswissen über Menschen, die „geistig behindert“ genannt werden. So haben sich ein mimischer Code und eine filmsprachliche Konvention entwickelt, um das Thema auf eine Weise zu vermitteln, dass Mitleid und Überlegenheitsgefühl sich zu wohlig-nachdenklicher Betroffenheit verbinden. Der kleine Freundeskreis, der sich um Sam gebildet hat, erfüllt so manches Freakshowbedürfnis: ein Paranoiker, der überall Mikrofone wittert; ein tuntiger Filmbuff, der sich pausenlos in seinem Wissen verheddert; eine Konzertpianistin, die seit Jahren das Haus nicht mehr verlassen hat.

Sean Penn demonstriert ja selbst, wie das sensomotorische Gedächtnis des Hollywoodkinos funktioniert, indem er sich von der Kleidung bis zur Körpersprache an Dustin Hoffmans Darstellung in „Rain Man“ orientiert. Mit kinematografischen Mitteln muss Sam nachgewiesen werden, dass er nicht Symptom eines gesellschaftlichen Bedingungszusammenhangs ist, sondern Ausdruck einer ganz und gar individuellen Pathologie. In „I am Sam“ gibt es kein Entkommen aus der Zuschreibung „geistig behindert“. Sam darf nicht einmal dumm sein. „I am stupid“, beharrt er an einer Stelle. Das Drehbuch widerspricht energisch: „No, you’re not.“

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