: Westerwelle vor dem Abgrund
DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER
In einer komplexen Demokratie kann man viele der grundsätzlichen Probleme gar nicht lösen. Man kann nur versuchen, einen besseren Umgang mit ihnen zu finden, aber auch der wird mit bestimmten Enttäuschungen einhergehen. – Bert van den Brink, Professor für Philosophie an der Universität Tilburg Als Jürgen Möllemann auf dem Parteitag der FDP, seine Grippe niederkämpfend, plötzlich in Fahrt kam und, zu Guido Westerwelle gewandt, von Losmarschieren, Königskrönung, Fürsten und bereitstehenden Truppen schwadronierte, schwenkte die Kamera zum Parteivorsitzenden und zeigte etwas Seltsames, ganz und gar Unerwartetes. Westerwelle versuchte zu lächeln, doch in den Mundwinkeln zuckte Qual. Die routinierte Mimik durchkreuzte ein Ausdruck tiefer Irritation. Gereiztheit, Ärger, womöglich ein Gefühl der Scham verdarb seine Contenance.
Scham, weil Möllemanns pathetischer Schweißausbruch in der Wortwahl eher am Nibelungenlied als am Neudeutsch der Neoliberalen orientiert war? Oder weil Westerwelle noch Lambsdorffs „Schluss mit Spaß“-Parole im Ohr hatte? Oder schoss ihm jäh der Gedanke an den Untergang der Ostgoten, ihrer Fürsten und Könige durch den Kopf?
Etwas Düsteres störte seine gute Laune für Sekunden. Vielleicht war das, was da über sein Gesicht huschte, eine dunkle Ahnung, die er zugleich verleugnen musste, ein Anflug von Einsicht in die abgründige Vergeblichkeit politischen Handelns – und leise Trauer darüber, dass die meisten Probleme, die sich ein Politiker aufhalst, prinzipiell gar nicht zu lösen sind. Die Störung währte nur Augenblicke, dann war Westerwelle wieder bei sich selbst, auf der Höhe seiner schwer erarbeiteten Ausstrahlungskraft.
Wahlkampf ist eine zweischneidige Angelegenheit. Dass er, auch mitten in Europa, gegebenenfalls irrationalen Hass bis zum Mord ausbrütet, zeigt das Schicksal Pim Fortuyns. Die Konstellation von Hilversum – Rechtspopulist fällt fanatischem Tierschützer zum Opfer – hatte etwas Zufälliges. Und wieder auch nicht: Wenn jemand behauptet, alle Probleme vom Tisch wischen zu können, tritt garantiert ein Besessener auf, der sich um Pelztiere sorgt. Erwiesen ist damit nur die unbegrenzte Zahl der Varianten, in der sich politische Gewaltakte in der Unübersichtlichkeit unserer Demokratien ereignen können.
Irrationalismus gedeiht in entwickelten und weniger entwickelten Gesellschaften gleichermaßen. Aber er gewinnt dort besondere Brisanz, wo der – ökonomische, soziale, kulturelle – Entwicklungsstand die Ratio der Problemlösung zur allein gültigen Maxime erhoben hat. Vokabeln müssen gelernt werden, so lautet die Devise der Schule. Probleme müssen gelöst werden, so das Dogma der hoch entwickelten Demokratie.
Für Gesellschaften wie die unsere ist der Gedanke, dass es eine Menge unlösbarer Probleme gibt, schwer auszuhalten. Dabei genügt es, die Verlaufsgeschichte der beiden Legislaturperioden seit 1994 nüchtern zu analysieren, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass viele, ja die meisten Brüche, die sich durch unser Gemeinwesen ziehen, zwar gekittet, hier und da auch provisorisch geschient, nicht aber geheilt werden können. Der soziale Bau hoch industrialisierter Staaten kennt, anders als unsere technischen Systeme, keine auswechselbaren Module.
Er funktioniert nach dem Prinzip kommunizierender Röhren: Sie reagieren hochsensibel auf geringste Veränderungen in Teilbereichen und verteilen die nicht ausbleibenden Reflexe auf das ganze System. Der Beschäftigungsgrad, die Einwanderungsquote, das Rentensystem, die Krankenversicherung, das Besteuerungsmodell, die Familienpolitik, die Lage der inneren Sicherheit, aber auch die Kulturförderung und die Haushaltspolitik der Kommunen sind so miteinander verzahnt, dass Reparaturen in einem Teilbereich Defekte oder Defizite in einem anderen auslösen und dem Bau neue Risse zufügen.
Die Leistung der Demokratie besteht darin, Plus und Minus auszutarieren, das komplizierte System in einer ungefähren Balance zu halten. Dabei sind es nicht ihre Erfolge, es ist die Summe ihrer sich wechselseitig kompensierenden Fehlleistungen, die verhindert, dass die Architektur zusammenbricht. Fehler und Fehlerdiskurse halten die Demokratie in Gang. Gleichzeitig bringen sie sie in Verruf.
Nun zeichnet sich die politische Klasse nicht gerade dadurch aus, dass sie für solche Einsichten zugänglich wäre. Im Gegenteil – sie definiert sich selbst als eine Elite begnadeter politischer Experten, die Bescheid wissen und über das nötige Handwerkszeug verfügen, wenn es darum geht, die Welt zu verbessern. Sie verstehen sich als „Macher“, und Begriffe wie „Machen“ und „Machbarkeit“ prägen ihren Wortschatz. Der Blick in den Abgrund ist ihnen in der Regel fremd. Parteien und politische Institutionen sind in ihrem Verständnis Problemlösungsmaschinen. Der Bevölkerung ist daher kein Vorwurf zu machen, wenn auch sie zu großen Teilen der Klempnerlogik anhängt, nach der jedes Loch gestopft, jeder Riss genäht und jedes Problem einer von allen Seiten mit Appplaus bedachten Lösung zugeführt werden kann.
Es ist dies die Logik der ökonomischen und technischen Rationalität, der die modernen Gesellschaften ihre Entwicklung ebenso wie ihre Widersprüche verdanken. Eine Spirale ist hier am Werk, die unangenehme Konsequenzen für die Demokratie haben könnte. Denn je komplizierter die soziale Struktur und je vielfältiger die Probleme, desto unerträglicher der Gedanke, dass die meisten Lösungsvorschläge wenig oder gar nichts taugen. Zumal in Wahlkämpfen ist dieser Gedanke kaum geeignet, die Stimmung im Gemeinwesen zu heben.
Die letzten vier Jahre sind mehr oder weniger vermasselt – nun müssen Regierung wie Opposition dem Wahlvolk beteuern, sein Wohl und Wehe entscheide sich in der nächsten Legislaturperiode. Die Zukunft, stets reduziert auf die kommenden vier Jahre, erscheint als Reparaturwerkstatt, in der die Geräte neu angeordnet, die Bedienungsvorschriften geändert und vor allem die Klimaanlagen besser gewartet werden müssen.
Wenn dann doch wieder alles schief läuft, gewinnt ein neuer Politikertypus Zulauf, der als Lösung keine neuen Betriebspläne, sondern nur sich selbst offeriert. Vertritt Le Pen noch einen altbackenen Populismus, so schillern Leute wie Berlusconi schon seltsam postmodern. Sie behaupten nicht, sie hätten die Lösung, sondern es gebe kein Problem – jedenfalls so lange nicht, wie man sie machen ließe. Im Gegensatz zum Biedersinn der Klempner vertreten sie einen Imperialismus der guten Laune, der das Argument durch Ausstrahlung und die Sorgenfalte durch die Krawattennadel ersetzt.
Schwer zu sagen, was Westerwelle durch den Kopf ging, als ihn Möllemann aus dem Gleichgewicht brachte. Deuten wir sein gequältes Lächeln positiv: Vielleicht umwehte ihn, wenngleich nur für Sekunden, ein Hauch Politikverdrossenheit.
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