piwik no script img

Der Trauerkoloss

von BERND MÜLLENDER

Und, hat er wieder geweint? Wer Bayer Leverkusens Niederlage im Pokalfinale am Samstag verpasst hatte, fragte schnell nach dem Befinden des Dicken. Nach Reiner Calmund; Trauerklos, Trauerkoloss. Der Bemitleidenswerte. Schon wieder so schlimm gescheitert: Wie mag es ihm gehen, dem armen Calli?

Reiner Calmund hat diesmal nicht geweint, anders als nach dem verpatzten Meisterschaftsfinale, als er mit Mikro in der Hand, sein eigen erschüttert Dasein kommentierend, in Leverkusen den Mittelkreis benetzte. In Berlin rief er zum Frustsaufen auf. „Jetzt baller ich mir einen“, er werde es „richtig krachen lassen“. Aber nicht allein: „Und ich erwarte von allen: Lasst die Sau raus.“ Da habe man zwar „am nächsten Tag Kopfschmerzen, aber auch die Rübe wieder frei“. Suff als eine Art Therapie: Bekannt unter Fans, nicht so sehr in der Führungsetage eines Fußballkonzerns.

Reiner Calmund (53), Faktotum, XXL-Manager, Laienprediger („nur der liebe Gott kann uns noch helfen“), Sumomann und rheinischer Büttenredner, umtriebiger Umsatzmacher, Faxenmacher und ruheloser Schaffer, Workaholic, Freund guten und vor allem reichhaltigen Essens, die barockeste Figur seit Erfindung des Managerwesens. Calmund ist Bayer 04. Sprecher, Verlautbarer, Blitzableiter, selbst Hausmeister daheim in der schmucken BayArena.

Meist reicht ein Stichwort. Irgendeines. Zum System Calmund gehört, dass er immer redet. Lange und viel. Wasserfallartig. Oft redet er Dinge schön. Oder spricht anderen nach dem Mund. Bauernschlau bedient er die Jagd nach Zitierfähigem. Sein Kollege Uli Hoeneß stellte einmal fest: „Der sagt zu allem irgendetwas. Stoßen in Tschechien zwei Spieler mit dem Kopf zusammen, weiß er, dass das in Leverkusen 1934 auch schon passiert ist.“ Noch auf der Ehrentribüne sprudelt er drauf los. Etwa, dass dieses Spiel wieder „einen Erdrutsch an Sympathien“ gebe für Bayer 04.

Sisyphos als Gemütsmensch

Nach den Erdrutschen entscheidender Niederlagen ist Calmund selbst Mittelpunkt vieler Betrachtungen geworden. Mitleidiger, tragischer Geschichten – natürlich. Der Dicke, der immer verliert. Der Sisyphos des Rasens. Bis in die Feuilletons der großen Zeitungen ragt er hinein. „Keine Frage“, stand neulich in der SZ, „lieber mit Reiner Calmund trauern als mit Matthias Sammer feiern.“ Sammer ist der sympathische aber staubtrockene Trainer des Meisters Borussia Dortmund. „Wenn sogar einem Calmund das Glück nicht vergönnt ist, warum sollte es uns vergönnt sein in unserm viel banalerem Weben und Streben?“ Nein, ihr Fußballgottheiten, hört zu: „Das Zweitbeste setzt sich durch.“

Ob Calmund das glauben kann? Zuletzt litt er an einer Musikalien-Phobie. Als Bayer vor zwei Jahren am letzten Spieltag in Unterhaching die Meisterschaft vergeigte, lief bei beiden Toren des Gegners als Stadionhymne der „Anton aus Tirol“. Calmund fast ein Jahr danach: „Das hat mich die ganze Zeit verfolgt. Seitdem habe ich das Lied 150 Mal gehört und immer musste ich an Unterhaching denken.“ Gegnerische Fans beschallen die Stadien regelmäßig mit ihrem hämischen „Ihr werdet nie deutscher Meister“. Für Calli jedesmal Stiche. Schmerzen. Er wolle „diese Spottgesänge“ nie mehr hören, sagte er im April.

Es ging daneben: wieder Vizemeister. Lauter denn je die Gesänge. „Dat mäht dich kirre. Da wirste ballaballa.“ Jetzt will Calmund das Lied auf CD pressen lassen – als inoffizielle Vereinshymne. Die nächste Selbsttherapie, diesmal im Mäntelchen der Selbstironie. Und die vier Vizemeisterschaften, sagt Calmund, sollen aufs offizielle Briefpapier.

Calmund, omnipräsenter Superstar. Er verkörpert die Stadt Leverkusen, die keine ist, sondern ein Patchworkensemble von Städtchen und Dörfern. Sein Bauch: Schlebusch. Opladen: die mächtige Brustpartie. Wiesdorf und Hitdorf: vielleicht seine Hände. Das Autobahnkreuz: sein Büro, wo alle Fäden zusammenlaufen. Gesamterscheinung: Ortsteil Fettehenne. Albern? Calmund würde darüber wahrscheinlich lachen. Er lacht über jeden Joke mit, der seinen Körper betrifft. Der Bauch ist Blitzableiter für unangenehme Fragen.

Calmund 04 würde Stadtpatron, Bürgermeister honoris causa und Reiterstandbild in Leverkusen, wenn‘s mal klappt. Alttrainer Max Merkel spottete einmal: „Calmund würde vier Wochen nur Körner futtern, könnte er einmal die Meisterschale in Händen halten.“

Die Champions League heute Abend (20.45 Uhr, RTL) wäre ein gigantischer Triumph – aber auch nur ein kleiner Trost. Nach dem Kater von Berlin hat er die Parole ausgegeben: Die Elf müsse gegen Madrid „kratzen und beißen“. Und der Zahlenfex hat hochgerechnet: 800 Millionen Menschen an den TV-Geräten würden seinem Team die Daumen drücken. Der leidende Verlierer Calmund ist zur Marke geworden, er wirkt glaubwürdig, auch wenn sich die eine oder andere Träne auch mal gezielt löst. Calmunds gramgebeuteltes Dasein als Quell stetig wachsenden Mitleids. Und damit Bekanntheit. Und Sympathie. Man nimmt Anteil. Die lieben Loser von Bayer 04: ein herzwärmendes Image als neue Etappe in Callis Lebenswerk.

Calmund hat den Club gepuscht. Calmund hat professionelle Managementstrukturen aufgebaut. Bayer galt immer als Kunstprodukt: Pillenelf, Plastikklub; eine Werksmannschaft, die Beamtenfußball spielt. Calmunds 300 Pfund und seine menschelnden Diätversuche waren stets der Gegenentwurf zum Vereinsimage. Jetzt, in den Niederlagendramen, wächst zusammen, was nie zusammenzupassen schien.

Calmund genießt Narrenfreiheit. Er überlebte das sportliche Desaster in Unterhaching, das die emsig vorbereiteten Meisterschaftsfeierlichkeiten viel belacht platzen ließ. Er überlebte auch, durchaus knapp, im Herbst 2000 das Theater um seinen verlogenen (Ex-) Freund Christoph Daum. Er überlebte groteske Trainergestalten wie den begnadeten Blender Dragoslaw Stepanovic und das eigenwillige Expertentum des Erich Ribbeck, das fast in Liga 2 endete, bis Calmund „die Reißleine ziehen“ musste und den guten Freund entlassen. Als Folge meuchelte Sir Erich die Nationalelf. Schließlich wagte sich der FC Calmund 04 sogar an das Halbjahres-Missverständnis Berti Vogts („Dä Berchti“). Erst Trainer Klaus Toppmöller, Wirtssohn von der Mosel und Diplomingenieur, war Calmunds Glücksgriff.

Studiert hat der Beleibte das Einmaleins (Betriebswirtschaftslehre) und ist deshalb beileibe kein Intellektueller. Sondern einer der intensiv dealen, händeln, kungeln kann. Die lustige Folklore ist nur Calmunds öffentlicher Teil. Unter Calmunds Führung hat Bayer als erster Bundesligaclub ein Scoutsystem für Talentsichtung und -einkauf in Südamerika aufgebaut. Manchmal fliegt Calmund selbst zwei Tage, zack, zack, nach Rio. Und erzählt dann launig davon, wie er sich in gigantischen Shorts an der Copacabana „bei der Parade der balzenden Zuchtbullen“ geräkelt habe. Weniger intim geraten Berichte über seine Rolle bei der Parade der Scheckbuchwedler.

Im Fußball, da kann man noch so herzzerreißend authentisch weinen, geht es, weiß Calmund, bisweilen hart „am Rande der Legalität“ zu. Da gibt es üppige Geschenke, Schwarzgeld und finanziellen Hilfen (um das Wort Bestechung zu vermeiden). Mit dem Titel „Pate von Leverkusen“ fühlt sich Calmund „geschmeichelt“, als „Brachial-Pragmatiker“ (Spiegel) glaubt er an seinen guten Ruf „als großer Zampano“. Lügen sei im Fußballbusiness „legitim wie beim Pokern“. Calli weiß: „Fußball ist kein Eiskunstlaufen“, und meint damit nicht nur das bisweilen raue Klima auf dem Platz. Bayer 04 ist fast ein Import-Export-Firma für südamerikanische Kicker geworden: Auch das Callis Werk.

Der Dicke mit dem Geldkoffer

Seine Methoden mantelt er in Ironie: Es habe Zeiten gegeben, „in denen wir Spieler hypnotisieren und unter Alkohol setzen mussten, damit sie zu uns wechseln.“ Schon 1989, ganze vier Wochen nach Mauerfall, war Dagobert Calmund die Verpflichtung von Ulf Kirsten und Andreas Thom aus Deutschland/Ost gelungen. Launig berichtete er später, wie er das im Falle Thom strategisch anpackte: „Man fährt in die Wohnung zu seinen Eltern, bringt ’ne Tafel Schokolade und ’n Sträußchen Blumen mit und macht ein bisschen Tralala.“ Im Osten hieß es damals: „Der Dicke mit dem Koffer ist wieder da.“

Calmund, der fröhliche Grobian, poltert gerne los, liebt Kraftausdrücke, nimmt Anleihen im Fäkalbereich oder benutzt Fachtermini wie Tralala, Pipapo, Larifari oder das rheinische Killefitt. Es gilt: „Ich bin das Kampfschwein in vorderster Front.“ Disziplin ist gefragt: „Ohren steif, Stahlhelm auf und durch die Scheiße durchmarschiert.“ Ohne Rücksicht auf sprachliche Differenzierung: Neulich sah Calmund seine Bayer-Elf statt in Old Trafford in Manchesters „Ollt Tretfort“ spielen, als wäre das Stadion eine Teppichbodenmarke.

Calmund Lieblingseinschätzung ist „positiv bekloppt“. Das gilt für ihn selbst und als Anforderungsprofil für andere. Er möchte, sagt er, „eigentlich unsterblich sein“. Ansonsten in der schmucken BayArena, seinem Lebensmittelpunkt, „im Mittelkreis beerdigt werden“. Callis Trost: „Ich glaube daran, dass im Himmel Fußball gespielt wird.“ Kein Zweifel: Er würde Gott die Aufstellung diktieren und umgehend für die Transfers der weltbesten Kicker zum FC Jenseits sorgen. Wenn das Daumdrama einmal verfilmt würde, möchte Calmund „in der Hauptrolle als Dick und Doof“ mitmachen. Eine sehr gute Besetzung, wenn man von jenem Anruf weiß, mit dem Calmund im Herbst 2000 den Rechtsmediziner Prof. Herbert Käferstein mit der Schamhaaranalyse des Trainers Christoph Daum beauftragte. Wie Calmund so ein Telefonat angeht, berichtete Käferstein im Koblenzer Kokainprozess: „Herr Calmund hatte das als Sackhaarprobe bezeichnet. Aber ich wusste schon, was gemeint war.“

Das ist doch schön: Den dicken Zirkusdirektor Don Calli verstehen alle. Erst recht, wenn er heute Nacht, vor Glück heulend, den Glasgower Hampden Park überschwemmen kann. Und falls calli nationale über die nächste schöne Niederlage weinen muss, dann machen wir alle mit.

Von Bernd Müllender ist 2001 im Belchen Verlag Freiburg in der Reihe „Meister des runden Leders“ das „Kleine Wörterbuch zu Reiner Calmund“ erschienen (7,95 Euro)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen