: Einleuchtendes Finale entfällt ersatzlos
Vom skurrilen, bergsteigenden Deutschlehrer und der geschwätzigen Pubertierenden: Paulus Hochgatterer erlaubt sich in „Über Raben“ den Luxus zweier fast gänzlich unverbundener Handlungsstränge, die weder unterwegs noch am Ende nennenswert miteinander verflochten werden
„Für die bösen Kinder und die schlechten Lehrer“: Solche Widmung lässt an perfektes Timing denken. Doch in Über Raben vom Wiener Paulus Hochgatterer hat der Lehrer das Gewehr – und seine Schüler die guten Ratschläge. Ein Bergsteiger verschanzt sich oberhalb einer Steilwand, um dort, mit einem Präzisionsgewehr bewaffnet, seinen Verfolgern aufzulauern.
Dass er Deutschlehrer ist, lässt das Ganze skurril erscheinen. Um so mehr, liest man parallel dazu, wie die 13-jährige Valentina mit der Aufgeregtheit eines Teenagers die kleinen und großen Ereignisse ihres (Schul-)Alltags schildert. Aber was haben sie miteinander zu tun? Dass der Kletterer einmal verheiratet war, als Lehrer auch das Mädchen unterrichtet hat, erfährt man schnell. Und einmal deutet er an, dem Mädchen zu nahe gestanden zu haben. Das Mädchen gibt sich ebenfalls verschwiegen. Trotz ihres Alters lebt sie ohne ihre Eltern, mit ihrer Schulfreundin Simone denkt sie sich ständig neue Todesursachen für verschiedene Berufsgruppen aus.
Aber bedeutet das, dass ihre (Raben-)Eltern tot unter den Dielen liegen? Die Antwort bekommt man nicht, denn Hochgatterer verzichtet auf ein einleuchtendes Finale. Denn beide Handlungsstränge enden plötzlich und, wie es scheint, an einem vollkommen willkürlichen Punkt der Erzählung.
Der von Schlusspointen verwöhnte Leser mag sich an der Nase herum geführt fühlen. Der ambitionierte Leser blättert verstört zurück, auf der Suche nach Überlesenem Doch das braucht er nicht, denn das Verwirrspiel hat Methode. Hochgatterer erreicht damit vor allem eines: Er reißt uns unseren Erfahrungsschatz mit „solchen Geschichten“ praktisch aus den Händen und versetzt uns wieder zurück in die Kindsposition: Nicht alles wissen, manches zu ahnen und sich das meiste selbst zusammenzureimen.
Frank Schliedermann
Paul Hochgatterer, Unter Raben, K. Berger 2002, 200 Seiten, 19,90 Euro. – Lesung heute, 20 Uhr, Buchhandlung Christiansen (Bahrenfelder Str. 79)
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