: Straßenjungen-Kino
■ Eine Geschichte von den Straßenjungen in Casablanca, mit viel Poesie auf die Leinwand gebracht
Es war einmal ein Straßenjunge, der davon träumte, ein Prinz zu sein. Doch da dies kein Märchen aus Tausendundeiner Nacht ist, sondern ein Film aus dem Casablanca von heute, stirbt dieser Ali schon nach den ersten fünf Minuten des Films. In einem Streit mit anderen Straßenjungen wird er von einem geworfenen Stein am Kopf getroffen, und für den Rest des Films versuchen seine Freunde Kouka, Omar und Boubker, ihn zumindest so zu begraben, wie es eines Prinzen würdig ist.
So kippelt der Film „Ali Zaoua“ immer zwischen einer märchenhaften Poesie und einem ungeschönten dokumentarischen Blick auf das Leben von Straßenkindern in Marokko hin und her. Wenn ein Kind auf die Kreidezeichnung an einer Mauer blickt, dann kann die Figur sich plötzlich bewegen und als Zeichentricksequenz mit einem Boot übers Meer zu der Insel mit den zwei Sonnen fahren.
Davon hatte Ali immer seinen Freunden erzählt, und diese Traumwelt wird für Kouka, Omar und Boubker manchmal in den dreckigen Elendsvierteln von Casablanca real. Wohl auch, weil sie ständig Klebstoff schnüffeln; wohl auch, weil ihr reales Leben ohne Fluchtträume nicht zu ertragen wäre. Man braucht nur in ihre Gesichter zu schauen: der eine hat eine tiefe, gezackte Narbe auf der Wange, der andere eine gebrochene und schief zusammengewachsene Nase, der dritte einen so resignierten, weltweisen Blick wie ein alter Bettler. Sie sind vielleicht höchstens 12 Jahre alt, aber ihre kleinen Körper erzählen schlimmere Geschichten als der ganze Film.
Von den Zuständen in einem armen Land am Beispiel der Straßenkinder zu erzählen, hat der marokkanische Filmemacher Nabil Ayouch eindeutig von Mira Nair ('Monsoon Wedding') gelernt, die eben dies schon 1988 in „Salaam Bombay“ tat. Wie damals Nair, suchte Ayouch sich unter den Straßenjungen seiner Heimatstadt ein paar geborene Schauspieler heraus, erarbeitete dann mit ihnen zusammen die Geschichte und die einzelnen Szenen des Films (dafür brauchte er zwei Jahre) und erwischte so mindestens zwei Fliegen mit einer Klappe: Der Film wirkt extrem authentisch und emotional, denn Kinder wecken nun mal bei fast jedem den Beschützerinstinkt. Auch beim Zuschauer.
Die Geschichte mag in „Ali Za-oua“ manchmal etwas lang und holprig erzählt werden. Und auch der dramaturgische Sog ist nicht stark genug: Man fiebert nicht gerade den ganzen Film über mit, ob Ali nun beerdigt wird oder nicht. Aber mehr als entschädigt wird man dafür durch den sehr genauen und ungeschönten Blick, den man auf die Lebensumstände der Straßenkinder bekommt. Wir sehen, wo sie schlafen, was sie essen, wie sie ihre Almosen verdienen, wie die Hierarchie in der Bande funktioniert. Und schließlich werden die dramaturgischen Schwächen des Films mehr als wettgemacht durch das beeindruckend glaubwürdige und intensive Spiel der vier Kinder.
Aber „Ali Zauoa“ hat auch noch eine seltsame, fast weltpolitische Fußnote: Wie viele andere Filme sieht man auch ihn nach dem 11. September mit ganz anderen Augen. Denn in Casablanca gibt es auch „Twin Towers“: Diesen einzigen Wolkenkratzer der Stadt hatte der Architekt natürlich beim World Trade Center in New York abgekupfert. Aber wenn Kouka zum sterbenden Ali sagt, sie beide wären wie die Twin Towers: für immer würden sie unzertrennlich auf die Stadt blicken, dann zeigt der Film einen Blick auf die beiden Türme aus einem Hubschrauber heraus. Völlig unbeabsichtigt (der Film wurde schließlich shcon 2000 gedreht) hat Regisseur Nabil Ayouch da plötzlich Bilder von einer ganz anderen, neuen Bedeutung in seinem Film.
Wilfried Hippen
„Ali Zauoa“ läuft in der deutschen Synchronfassung sowohl als Kinderfilm von Fr. bis So. um 16 Uhr wie auch im Abendprogramm von Heute bis Sa. um 18.30 Uhr und von Mo. bis Di. um 20.30 Uhr im Kino 46.
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