: Mehr Nato für weniger Feind
Auch nach der Erweiterung sucht die Allianz nach ihrem Sinn. Als Verteidigungsbündnis fehlt ihr ein Gegner, als Interventionspakt ist Washington das Bündnis zu zaghaft
Dies sei die Stunde der Allianz, glaubten die Mitglieder des Nato-Rats am Tag nach den verheerenden Terroranschlägen auf New York und Washington. Erstmals in der zweiundfünfzigjährigen Geschichte des Bündnisses riefen sie förmlich den Verteidigungsfall aus. Dann trat wieder Ruhe ein. Als drei Wochen später die ersten Bomben und Raketen auf afghanischem Boden einschlugen, waren es US-Geschwader unter US-Kommando, die den Angriff flogen.
Brüssel hatte nichts damit zu tun. Aus der gemeinsamen Antwort auf die gemeinsame Herausforderung wurde nichts. Lediglich sieben Awacs-Flugzeuge, die zum multinationalen Aufklärungs- und Frühwarnpool der Allianz in Europa gehören, durften bei der Überwachung des nordamerikanischen Luftraums aushelfen. Mehr als Hand- und Spanndienste waren nicht gefragt. Die historische Erklärung des Bündnisfalls erwies sich als große, aber schon anachronistische Geste.
„Die Mission bestimmt die Koalition, nicht die Koalition die Mission“, gaben seither amerikanische Regierungsvertreter ihren Verbündeten immer wieder zu verstehen. Markiert das Motto den Anfang vom Ende der Nato? Nicht ganz. Die Geschäfte gehen weiter, wenngleich nur vordergründig in den gewohnten Bahnen. Von den beiden Hauptthemen bei dem Frühjahrstreffen der Außenminister in Reykjavík Anfang dieser Woche stand das eine seit langem auf der Tagesordnung: die Aufnahme weiterer Mitglieder. Das zweite, die neue Formel für das Verhältnis zu Russland, war noch vor Monaten so nicht absehbar. Vom 11. September und den tektonischen Verschiebungen im Mächtegefüge der internationalen Politik geprägt sind sie beide.
Warum die Nato überhaupt gen Osten expandieren – korrekt gesprochen: sich öffnen – soll, ist schon beim ersten Erweiterungsschub unklar geblieben. Zwingende sicherheitspolitische Gründe gab es keine. Die Kandidatenkür glich einem Roulette nach unbekannten Regeln. Brachte Frankreich Rumänien ins Spiel, hielt Italien Slowenien dagegen. Beide Vorschläge scheiterten letztlich am seinerzeitigen Beharren Washingtons auf einer „kleinen Lösung“. So gelangten im März 1999 nur die drei ehemaligen Ostblockstaaten Polen, Tschechien und Ungarn zu Mitgliedswürden. Diesmal dürften mehr Bewerber zum Zuge kommen. Als aussichtsreich gehandelt werden außer Slowenien und Rumänien die Slowakei, Bulgarien und auch die drei baltischen Länder.
Damit würde die in Moskau stets so genannte rote Linie überschritten, was heißen sollte: keine Ausdehnung der Nato auf vormals sowjetisches Territorium. Zumindest bei Wladimir Putin scheint der Vorbehalt nicht länger zu bestehen. Er wünscht sich den engeren Schulterschluss mit dem Westen. Dafür ist er bereit, alte Positionen zu räumen, anders als die weiterhin natokritische Öffentlichkeit Russlands, anders auch als die noch zögernden Amtsträger in der Umgebung des Präsidenten, darunter die beiden Iwanows, Igor, der Außen-, und Sergej, der Verteidigungsminister.
Doch ist das letzte Wort über die Kandidatenliste noch nicht gesprochen. Bis zu seinem Prager Gipfeltreffen im November will sich das Bündnis die Entscheidung offen halten. Zuvor stehen noch Wahlen in der Slowakei an. Dort hat die eigenbrötlerische Partei des früheren Ministerpräsidenten Meçiar gute Chancen. Sie allerdings möchte man nicht in der Regierung eines künftigen Nato-Mitglieds sehen, worauf die slowakischen Wähler hinzuweisen kein westlicher Politiker bei Reisen in das Land versäumt. Spannendere Fragen sind offenbar Mangelware. Am meisten fällt bei der zweiten Beitrittsrunde ins Auge, wie geräuschlos sie vonstatten geht. Keine Auseinandersetzung um Aufnahmekriterien, kein politischer Streit, nicht einmal laute Proteste aus Moskau sind zu vernehmen. Die Nato hat einfach aufgehört, eine wichtige europäische Angelegenheit zu sein.
Nach Auffassung Washingtons erweist sich Moskau als mustergültiger Partner in der „Allianz gegen den Terror“. In Zentralasien und im Kaukasus hat es amerikanische Truppenstationierungen ohne Widerspruch hingenommen. Im Gegenzug bietet die Nato der russischen Führung an, die Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen. „Mehr Gleichberechtigung“ heißt die Devise. Statt als Gast einem geschlossenen Club gegenüberzusitzen (19 plus 1 – oder auf Russisch: 19 gegen 1) soll Russland selbst als zwanzigster Teilnehmer am Verhandlungstisch Platz finden.
Spötter nennen die Offerte eine Schluckhilfe für die ungenießbare Kröte der Osterweiterung. Auf das Vorgängergremium traf die Charakterisierung zweifellos zu. Der 1997 mit großem Aplomb aus der Taufe gehobene Nato-Russland-Rat hat nie zu etwas anderem gedient, als die russische Seite von Nato-Beschlüssen nachträglich in Kenntnis zu setzen. Ob der neue Zwanziger-Rat dasselbe Schicksal erleidet, muss sich zeigen. Alles hängt davon ab, über welche Themen Russland nicht nur mitberaten, sondern auch mitentscheiden darf, vielleicht sogar mit Vetorecht. Gegenwärtig scheint das amerikanische Wohlwollen grenzenlos. Selbst die Mitgliedschaft Moskaus in der Allianz wird nicht länger ausgeschlossen.
Wohin künftig die Reise gehen soll, lässt sich nur erahnen. Für ein klassisches Verteidigungsbündnis mit bald 26 Mitgliedern und fast fünf Millionen Soldaten unter Waffen fehlt ersichtlich der Bedarf. Weit und breit ist kein halbwegs ebenbürtiger Gegner mehr in Sicht. Die Alternative umreißt das gemeinsame Strategiedokument von 1999: Es versteht die Nato als Interventionsallianz mit einem über Europa hinausreichenden Einsatzradius und der Bereitschaft, auch ohne völkerrechtliches Mandat militärisch zuzuschlagen. Daran ist den meisten Europäern jedoch im Kosovokrieg die Lust vergangen.
Für Washington liegen die Dinge klar. Es hat seine Prioritäten gesetzt. Der weltweiten Bekämpfung des Terrorismus gleichgestellt ist die Kampagne gegen „Schurkenstaaten“, vorzugsweise solche, die sich durch renitentes Gebaren verdächtig machen. Jeder Missliebige kann ins Fadenkreuz geraten. Dafür braucht man nicht die Nato. Und man hegt wenig Respekt vor Partnern, die mit politischen Skrupeln die Zeit verschwenden, statt ihre Rüstungsanstrengungen zu beschleunigen. Die Frage an die Europäer lautet: Seid ihr bereit, mit uns zusammen die Bösewichter dieser Welt in die Schranken zu weisen, wo nötig mit Waffengewalt und im Zweifel auch mit präventiver Kriegsführung? In den amtlichen Kommuniqués kommt die Frage noch nicht vor, aber hinter den Brüsseler Kulissen ist sie das Thema Nummer eins.
Kein Wunder, wenn es in der Nato rumort. Verteidigung bedeutet Abwehr eines Angriffs auf ein eigenes Rechtsgut. Intervention bedeutet Eingriff und Einmischung in Rechtsgüter anderer. Das ist das Gegenteil von Verteidigung: die Ablösung des Völkerrechts durch das Faustrecht. Die Nato würde sich selbst immer fremder. REINHARD MUTZ
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