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Zelluloidmotten

■ Natur goes Kunst. Mit einer Avantgarde-Filmreihe weiht die IUB ihren nostalgischen Kinosaal ein

„Hurry! Hurry!“ sagen sich die Spermien, die über die Leinwand schlittern. Die einzig fruchtbare Eizelle will rechtzeitig erreicht sein, man rangelt und schubst sich, manchmal mutieren die langschwänzigen Kaulquappe nachgerade zu kämpfenden Ratten. Flammen und Schlachtenlärm lassen die survival-of-the-fittest-Jagd noch unbarmherziger erscheinen.

Marie Menken hat „Hurry! Hurry!“ 1957 gedreht, was viele Ära-Adenauer-Zeitgenossen bestimmt moralisch erschüttert hat. Morgen ist der Vierminüter in Bremen zu sehen, wo er allerdings mehr unter dem Aspekt „The Visual Power of Nature“ interessiert. Die Frage: Wie sind abstrakte Kunstwerke von natürlichen Phänomenen inspiriert? Dazu hat Christine Rüffert vom Kino 46 eine Reihe von Avantgardefilmen zusammengestellt. Und aus der Kunstgeschichte grüßen Henry Moores maritime Strukturen, Paul Klees Kosmosbilder oder die ganze Art Nouveau mit ihrem floralen Design. Die sind das Thema einer begleitenden Ausstellung an der International University Bremen, an der Rüffert ihre Filme vorführt.

Sie selbst hat ziemlich unakademische Urgesteine der Filmgeschichte zusammengesucht – mittendrin: Paul Winkler. Paul Winkler kommt vom Bau. Genauer gesagt, bis 1956 kam er vom Bau, dann wanderte der Hamburger nach Australien aus, um der wiedereingeführten Wehrpflicht zu entgehen. Seitdem beobachtet Winkler mit Vorliebe Wasser. Er lässt es – zum Beispiel in „Capillary Action“ – in alle Richtungen fließen und unterteilt den Film dafür in verschiedene Fenster. Mach ich doch auch immer, mag da der heutige Homevideobastler denken. Aber Winkler bastelt schon seit den 50er Jahren an seinen handgefertigten Kaskadrierungen (Kameraabklebungen), die per Doppelbelichtung zu charmanten Leinwandkompositionen werden. Sein Thema ist dabei die sichtbar gemachte Osmose, das Diffundieren von Flüssigkeiten durch Zellwände.

Mit Len Lye hat Rüffert einen weiteren Urahn abstrakter Filmästhetik im Programm. 1935 hat der Neuseeländer den Streifen „Kaleidoscope“ produziert, in dem geometrische Formen über die Leinwand tanzen und farbige Flüssigkeiten drauflos wabern. Das alles ist auf den Rhythmus der kubanischen Musik des damals populären Don Baretto geschnitten und ohne Kameraeinsatz hergestellt. Denn Lye war zugleich einer der Erfinder des direct film, das heißt, er zerkratzte, stempelte und bemalte das Filmmaterial, anstatt es zu belichten. Das Ergebnis ist ein fröhlich-bunter Vierminüter.

Thomas Steiners „Schwenk“ (1998) ist dagegen richtig anstrengend. Mit einem simulierten Kameraschwenk hat der Österreicher Landschaft in eine Graphik verwandelt. Flimmer flimmer. Da sind die Mottenflügel von Stan Brakhage (1963) schon sinnlicher. Als guter direct filmer hat er sie auf Zelluloid geklebt und so dem new american cinema Aufschwung verliehen.

Jenseits von Gefallen oder Kopfweh hat Christine Rüffert ein Credo: „Ohne die Avantgarde und deren Entwicklungen gäbe es keinen interessanten Kinofilm.“ Das Paradebeispiel: die Zeitsprünge, die die Spannung in Christopher Nolans „Memento“ ausmachen. Grundlegende Eigenschaften von Film wie Licht, Montage und Kameraführung seien eben anhand experimenteller Filme erweitert worden und dort auch für die Zuschauer nachvollziehbar. Rüffert: „Man muss den Illusionscharakter von Film immer wieder aufheben.“

Rüfferts Filmreihe läuft im Rahmen des Tages der offenen Tür der International University Bremen. Mit ihr wird der bisher ungenutzte Kinosaal des ehemaligen Kasernengeländes mit seinen 400 roten Plüschsesseln eingeweiht. HB

„Organic Abstraction – The Visual Power of Nature“ (sechs Filme) wird morgen zwischen 12 und 18 Uhr an der IUB in Bremen-Grohn (Bruno-Bürgel-Straße) gezeigt. Jeweils um 13, 15 und 17 Uhr gibt es begleitende Erläuterungen von Christine Rüffert.

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