: Regieren ohne Werte
Was tun gegen Rechtspopulisten? (2) Die Sozialdemokraten in Europa haben es versäumt, die Bedürfnisse der Menschen nach Zugehörigkeit ernstzunehmen
Es ist fast zwanzig Jahre her, dass Ralf Dahrendorf das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters ausrief. Der Soziologe begründete seine These mit der Erosion der Umweltbedingungen, die den Erfolg der Sozialdemokratie jahrzehntelang ausgemacht hatten: keynesianische Wirtschaftspolitik, Ausbau des Wohlfahrtsstaates und Verankerung der Wählerschaft in einem festen industriegesellschaftlichen Milieu.
Die Entwicklung in den Achtzigerjahren schien Dahrendorf Recht zu geben: Angefangen mit Großbritannien und den USA kehrten rechte Parteien in mehreren Ländern an die Regierungen zurück. Damit einher ging eine tief greifende Transformation der Wirtschaftspolitik, deren Parameter stets in dieselbe Richtung strebten: Steuersenkung, Deregulierung, Kürzung staatlicher Leistungen. Die Sozialdemokraten sahen sich in die Defensive gedrängt, konnten der neoliberalen Modernisierung kein nach vorne gerichtetes Alternativkonzept entgegensetzen.
In den Neunzigerjahren änderte sich das Bild. So als ob sie die Dahrendorf’sche Prognose Lügen strafen wollte, war die Linke plötzlich wieder obenauf: Mit Ausnahme von Spanien und Irland regierten Sozialdemokraten Anfang 1999 in allen Ländern der EU. Ihrer Renaissance lagen drei miteinander verbundene Ursachen zugrunde. Erstens hatten sich die rechten Parteien an der Regierung erschöpft. Da die Schattenseiten der Modernisierung nun stärker hervortraten, konnten die Sozialdemokraten von der verbreiteten Unzufriedenheit der Wähler profitieren. Zweitens war den Konservativen in Gestalt der neuen populistischen Rechten ein gefährlicher Konkurrent entstanden, der ihre Integrationskraft im eigenen Lager schwächte. Und drittens hatten sich die Sozialdemokraten der Programmatik ihrer rechten Gegenspieler angenähert, indem sie die Errungenschaften der neoliberalen Modernisierung mehr oder weniger stillschweigend übernahmen.
Der Traum von einem neuen sozialdemokratischen Europa währte allerdings nicht lange. Schon 1999 leitete der Machtwechsel in Österreich die Wende ein. Zwei Jahre später wurden die Linken in Norwegen, Dänemark und in Italien aus ihren Ämtern gekippt, Anfang 2002 folgte Portugal, jetzt die Niederlande. Und auch die SPD hat gute Chancen, sich am 22. September nach nur vier Jahren in der Oppositionsrolle wiederzufinden. Eine solche Entwicklung hätte vor zwei Jahren wohl niemand für möglich gehalten.
Wie lässt sich der Rechtsruck erklären? Ein nüchterner Blick auf die Zahlen zeigt zunächst, dass sich die Gewichte zwischen dem bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien in den genannten Ländern gar nicht so stark verschoben haben, im Gegenteil: Betrachtet man den langfristigen Trend seit den Fünfzigerjahren, stehen die Sozialdemokraten immer noch besser da als ihre christdemokratischen Kontrahenten. Die eigentlich bemerkenswerten Veränderungen liefen innerhalb des rechten Lagers ab: In dem Maße, wie die Christdemokraten schwächelten, konnten ihre Konkurrenten im „bürgerlichen“ Lager zulegen. In einigen Ländern kam dies rechtsliberalen Vertretern zugute, die sich nun nach rechts ausrichteten. In den meisten Fällen profitierte jedoch ein anderer Parteientyp, der seine Wählerschaft eher aus dem traditionell sozialdemokratischen Wählermilieu rekrutiert: die seit Mitte der Achtzigerjahre entstandenen Rechtspopulisten.
Das Aufkommen der neuen Rechtsparteien wurde dadurch begünstigt, dass in den Achtzigerjahren vorzugsweise konservative oder christdemokratische Parteien an der Macht waren. Nachdem sich dies in den Neunzigerjahren änderte und die Konservativen in die Opposition verbannt wurden, hätte sich ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Populisten eigentlich verbessern müssen. Die rechtspopulistischen Parteien blieben jedoch stabil und legten vielerorts sogar noch zu. Für die gemäßigte Rechte bedeutete das, dass sie die lästige Konkurrenz in ihre Bündnisüberlegungen fortan mit einbeziehen musste, wenn sie die Mehrheitsfähigkeit gegenüber der Linken nicht dauerhaft verlieren wollte.
Hier liegt denn auch die Erklärung für den beschriebenen Rechtsruck: der Rechtspopulismus ist als politische Kraft salonfähig geworden. Den Anfang machte 1994 Silvio Berlusconis Zusammengehen mit Umberto Bossis Lega Nord und Gianfranco Finis Alleanza Nazionale, das damals allerdings nur kurze Zeit funktionierte. 1999 folgte der Eintritt der FPÖ in die österreichische Regierung – er löste in der Europäischen Union ein mittleres Erdbeben aus. Die rechtspopulistischen Parteien Norwegens und Dänemarks, die bei den letzten Wahlen mit Ergebnissen von mehr als zehn Prozent triumphierten, tolerieren derzeit eine bürgerliche Regierung, sind also an der Macht indirekt beteiligt. In Portugal hat sich die PSD unter Premier Barroso auf eine Koalition mit dem rechtspopulistischen Partido Popular eingelassen.
Die rechtspopulistischen Wahlerfolge gründen auf einer Agenda, in deren Zentrum gesellschaftspolitische Fragen stehen. Ihre Schlüsselbegriffe heißen Sicherheit und nationale Identität, wichtigstes Mobilisierungsthema ist die Zuwanderung. Bei all diesen Fragen handelt es sich um Nebenfolgen des Modernisierungsprozesses, auf die die Linke bislang keine überzeugenden Antworten geben konnte. „Law and order is a Labour issue“ lautete Tony Blairs Wahlkampfparole im Jahre 1997.
In Wirklichkeit haben sich die Genossen von der Lebenswelt der kleinen Leute immer mehr entfernt. Übertriebene politische Korrektheit lässt sie die Probleme verdrängen, die gerade die randständigen Gruppen der Gesellschaft umtreiben: Kriminalität, Drogenkonsum, öffentliche Verwahrlosung, Schwierigkeiten bei der Ausländerintegration. Von daher kann es nicht überraschen, wenn Teile ihrer Wählerschaft geradewegs zu den Rechtspopulisten abgewandert sind. Ob dieser Trend anhält, dürfte von zwei Bedingungen abhängen: Zum einen müssen die rechten Parteien jetzt zeigen, dass sie es besser können. Dabei laufen gerade die radikaleren Kräfte Gefahr, sich an der harten Realität des Regierungsgeschäfts die Zähne auszubeißen. Die Stimmung könnte also bald wieder umschlagen und die Wähler in das sozialdemokratische Lager zurücktreiben.
Die Sozialdemokratie wäre jedoch schlecht beraten, die Entwicklung sich selbst zu überlassen. Ihre Rückkehr an die Macht wird nur gelingen, wenn sie der rechten Gegenmodernisierung ein eigenes, nichtregressives Projekt entgegenstellt, das die Bedürfnisse der Menschen nach Zugehörigkeit aufnimmt. Der Fehler der Linken war es, ihre Regierungsrolle weitgehend mit wirtschaftspolitischem Pragmatismus gleichzusetzen. Wenn sie dies nun korrigiert, bedeutet das nicht unbedingt einen Rechtsruck. Die Sozialdemokraten müssen versuchen, die Rechtsparteien auf dem Feld der Werte- und Identitätspolitik zu schlagen. Gelingt ihnen dies, ohne die eigenen Ideale zu verraten, dann werden sie auch wieder Wahlen gewinnen. FRANK DECKER
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