: „Lehrer sind unsere Elite“
Interview CHRISTIAN FÜLLERund SABINE AM ORDE
taz: Was hat Sie bei Veröffentlichung der Pisa-Studie mehr überrascht, Herr Sarjala: das gute Abschneiden der finnischen oder die schlechten Ergebnisse der deutschen Schulen?
Jukka Sarjala: Ich hatte mir erhofft, dass Finnland unter den Besten sein würde. Überrascht hat mich, dass die deutschen Schulen so schlecht wegkamen.
Am Montag wollen sich alle deutschen SPD-Bildungsminister bei Ihnen in Helsinki Rat holen. Womit werden Sie den großen Vorsprung des finnischen Schulsystems erklären?
Das ist die Gesamtschule. Bei uns gehen alle Kinder von 7 bis 16 Jahren in dieselbe Schule. In jeder Kommune, vom reichen Süden bis zum armen Norden, gibt es nur diese eine Schulform. Sie in Deutschland dagegen haben ein paralleles Schulsystem, wie wir es nennen. Es gibt nebeneinander unterschiedliche Schulen – gute für die guten Kinder und vielleicht nicht ganz so gute Schulen für die schlechten.
Ihre Besucher werden da anderer Meinung sein. Die deutsche Gesamtschule hat auch bei der SPD, die sie eingeführt hat, kein hohes Ansehen mehr.
Das kenne ich. Auch bei uns wird immer wieder darüber diskutiert. Ihre Gesamtschule ist allerdings ganz anders als unsere.
Warum?
Finnische Lehrer können einem Schüler nicht einfach sagen: „Du bist für uns nicht gut genug, du musst auf eine andere Schule oder in eine leistungsschwächere Klasse.“ In Deutschland ist das selbst auf so genannten Gesamtschulen möglich. In unserer Schule muss der Lehrer dagegen eine völlig andere Haltung einehmen. Er ist für 25 unterschiedliche Kinder verantwortlich – und muss 25 unterschiedliche pädagogische Konzepte entwickeln. Das ist anstrengend. Mir hat einmal eine Lehrerin erzählt, dass sie sich irgendwann eingestand: „Hey, ich muss mich ändern, ich bin für diese Kinder da.“ Der andere Stil, die andere Pädagogik, das macht die Gesamtschule aus.
Warum hat sich Finnland 1972 für die Gesamtschule entschieden?
Wir fanden damals heraus, dass unser altes paralleles Schulsystem für eine moderne Gesellschaft nicht mehr passt. Vor unserer Bildungsreform war es zum Beispiel für viele Schüler aus ländlichen Gegenden sehr schwer, aufs Gymnasium zu kommen. Finnland ist aber ein kleines Land. Wir brauchen jeden. Wir können es uns nicht leisten, Kinder schlecht auszubilden.
Gab es Streit, als das Schulsystem umstrukturiert wurde?
(lacht) Es war schrecklich. Es gab eine Art Krieg, und der hat sich lange hingezogen. Die erste Bildungskommission schlug bereits 1925 in einem Report einen Systemwechsel zur Gesamtschule vor. Ende der 40er-Jahre kam der nächste, 1959 wieder einer. Selbst die eigentliche Reform zog sich von 1964 bis 1977 hin. Ich kann das so genau sagen, weil ich damals als junger Beamter im Bildungsministerium den Zeitplan für die Reform entwerfen half.
Welche Vorbilder hatten Sie?
Wir haben uns natürlich andere Gesamtschulsysteme angeschaut. Das schwedische etwa, auch in der DDR waren wir.
Womöglich sind Sie mit Volksbildungsministerin Margot Honecker durch die Polytechnischen Oberschulen gelaufen?
Ich habe mit ihr Schulen und Universitäten in Dresden und Potsdam besucht. Wir waren in einer Fabrik, wo Schulkinder einfache Tätigkeiten verrichten durften, Produktive Arbeit hieß das.
Was haben Sie da gelernt?
Unser Modell stammt nicht von da. Nein, eindeutig nicht. Wir haben uns in vielen Ländern informiert – und dann unser eigenes System entwickelt. Bei der Lehrplanreform, die wir gerade durchführen, ist das nicht anders. Wir sehen uns alle Lehrpläne in Europa an – auch die deutscher Bundesländer. Das vergleichen wir dann: Wie sind die Notensysteme? Wie viele Schüler kommen an die Universität, wie viele brechen ab?
Herr Sarjala, gute und schlechte Schüler in eine Klasse zu stecken und dabei Spitzenleistungen zu erzielen – wie machen Sie das?
Wir haben unterschiedliche Aufgaben für die Schüler, schwere und weniger schwere. Weil die Schüler zusammenbleiben, können sie sich auch gegenseitig etwas beibringen.
So einfach soll das sein?
Ja, nehmen Sie das Lesen. Glauben Sie, dass Sie Kinder mit Goethe oder Schiller fürs Lesen begeistern können? Die sagen doch nicht: „Wow, Goethe, das interessiert mich.“
Ist uns auch so gegangen, wir mussten es trotzdem lesen.
Es macht keinen Sinn, Kindern etwas aufzunötigen. Lehrer müssen heute herausfinden, welche Art von Text die Schüler wirklich anspricht. Das kann zum Beispiel ein Buch über Eishockey sein. Kinder haben ganz verschiedene Fähigkeiten und wollen auch unterschiedliche Ziele erreichen. Es ist daher für Lehrer sehr wichtig zu wissen, wie ein Kind sich entwickelt und wie man es durch verschiedene didaktische Methoden anregen kann. Die Pisa-Daten haben das bestätigt. Motivation ist das Allerwichtigste fürs Lernen.
Müssen nicht alle Schüler einer Klasse das Gleiche lesen?
Nein, das wollen die doch gar nicht. Selbst wenn sie den gleichen Lehrplan haben, können die Lehrer ihren Schülern ganz verschiedene Bücher anbieten.
Ihre Schüler arbeiten in derselben Klasse zur selben Zeit mit unterschiedlichen Büchern?
Warum denn nicht? Das macht die Sache erst interessant. Jedes Buch hat seinen Stil, seine Handlung. Wenn Sie die Schüler danach fragen, wie der Stil des Buches ist, das alle gelesen haben, wird das schnell langweilig. Lassen Sie die Schüler mit der gleichen Fragestellung an verschiedene Texte herangehen, ergeben sich viele Vergleichsmöglichkeiten – und sie lernen obendrein zu präsentieren.
Was machen Sie mit den Kindern, die trotzdem nicht mitkommen?
Dafür haben wir Speziallehrer …
… die lernschwache Schüler separieren?
Höchstens zeitweise. Die Speziallehrer arbeiten zu Schulbeginn mit den Klassenlehrern im Team. Danach können sie mit in der Klasse bleiben. Oder sich in Einzelstunden besonders um einzelne Schüler kümmern. Schon vor 20 Jahren haben wir begonnen, mit zwei Lehrern in einer Klasse zu arbeiten. Daraus ist ein richtiges Fördersystem entstanden.
Wie sieht das aus?
Es besteht aus mehreren Personen. Dem neuen Beruf des Schulassistenten zum Beispiel. Er hilft schwächeren Schülern, wenn sie nicht recht mitkommen …
… und bleibt mit im Klassenzimmer?
Ja, das ist der zweite Lehrer, der hilft, den Unterricht zu differenzieren. Wer nicht mitkommt, wird zunächst getestet. Dann werden Gruppen mit drei bis vier Kindern gebildet – die separat unterrichtet werden. Dafür gibt es Sonderpädagogen.
Bekommen die betreffenden Kinder Nachilfe nur in einem Fach?
In dem Fach, in dem der Schüler Schwächen hat. Er erhält dann eine Woche oder auch mal ein halbes Jahr Förderunterricht. Die dritte Kraft des Fördersystems ist ein Kurator. Das ist eine Art Sozialarbeiter. Wenn ein Schüler auffällig ist, wenn er die Schule schwänzt oder gewalttätig wird, hat der Kurator nichts anderes zu tun, als den Kontakt zu den Eltern zu halten. Der vierte Beruf ist die Gesundheitsfürsorgerin, zu der die Schüler gehen, wenn sie ein kleines oder großes Wehwehchen haben. Und schließlich gibt es – an größeren Schulen – noch einen Arzt.
Eine multiple Lehrerschaft.
Früher hat alle diese Aufgaben der Lehrer übernommen. Heute geht das einfach nicht mehr. Diese fünf „Zusatzlehrer“ arbeiten eng mit dem Klassenlehrer zusammen – zum Beispiel, indem sie für einzelne Schüler eigene Lehrpläne erstellen. Davon lebt unsere Gesamtschule.
Pisa zeigt, dass es in Finnland gut gelingt, Bildungsnachteile auszugleichen, die Kinder aus ihren Familien mitbringen. In Deutschland klappt das fast gar nicht. Wie fördern Sie zum Beispiel Migrantenkinder?
Wir haben dieses Problem auch – etwa bei Einwanderen aus Russland. Einwandererkinder haben daher prinzipiell das Recht auf muttersprachlichen Unterricht. Die ganz Jungen brauchen das aber kaum. Denn sie kommen ein Jahr, bevor sie eingeschult werden, in Vorkurse und lernen dort Finnisch.
Und die Kinder, die schon im Schulalter sind, wenn sie nach Finnland kommen?
Da ist es ähnlich. Sie bekommen Vorbereitungskurse in Finnisch. Erst wenn sie das können, gehen sie auf die Gesamtschule. Da greift dann unser Fördersystem. Ich glaube, wir stecken mehr Energie und Ressourcen in diese Förderung als Deutschland.
Lehrer sind in Finnland sehr angesehen. Wie kommt das?
Das hängt sicherlich mit unserer Tradition zusammen. In ländlichen Gebieten ist der Lehrer immer noch die wichtigste und angesehenste Person im Ort. Dazu kommt die Ausbildung. Alle unsere Lehrer, egal ob die im Kindergarten oder die Klassenlehrer, studieren ihren Beruf. Die besten Studenten machen das. Finnlands Elite wird Lehrer.
Warum gehen die nicht zu Nokia, wo sie eine Menge Geld verdienen können?
Nokia bietet natürlich attraktive Jobs. Aber wer weiß, was mit Nokia in fünf Jahren sein wird? Dagegen weiß jeder, dass unsere Gesellschaft auch 2010 noch Lehrer braucht. Dennoch müssen wir darauf achten, dass es innerhalb der Schule Aufstiegsmöglichkeiten gibt – wie sie die Industrie bietet. Man darf nicht als Klassenlehrer anfangen und als Klassenlehrer enden.
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