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cannes cannesPassagen, Spiegelungen

Alle Tränen des Festivals

Manchmal lösen sich Gesten, Motive, Schauplätze und Zeichen aus einem Film und beginnen zu wandern. Figuren zum Beispiel, die durch Flure gehen, durch breite Korridore oder enge Gänge: In ihrem Film mögen sie sich von einem Raum zum nächsten bewegen, im Rahmen des Festivals passieren sie von Film zu Film. Man könnte eine Collage daraus gewinnen, die nichts als diese Augenblicke der Passage wiederholt und variiert, um ihnen eine Art Archiv zu schaffen.

Alexandre Sokourov hat, obschon er sich von der Systematik eines Archivs weit entfernt, an etwas Ähnlichem versucht: Sein Film „Russian Arc“ bewegt sich 96 Minuten lang durch die Räume, Treppenhäuser und Korridore der Eremitage in Petersburg und durch 200 Jahre russischer Geschichte – ohne Schnitt, in einer einzigen Einstellung, die Drehzeit deckt sich mit der Zeit des Films. Hunderte von Statisten bevölkern den labyrinthischen Raum und die labyrinthische Zeit. Dass Sokourov es geschafft hat, sie zu orchestrieren, ist nicht nur in technischer Hinsicht ein Verdienst.

Repetition und Variation auch bei Figuren, die nach Telefonhörern greifen, die vor Türen stehen und anklopfen, die aufwachen oder zu Bett gehen oder in Autos sitzen – Abbas Kiarostami übrigens hat daraus einen ganzen Film gemacht, „Ten“. Die Kamera verlässt das Auto nie, sie fokussiert entweder die Fahrerin oder die Beifahrerin bzw. den Beifahrer, und das ergibt nicht nur eine Momentaufnahme weiblichen Alltags und weiblicher Existenz im heutigen Iran, es ergibt auch ein Kompendium dessen, zu welchen Bewegungen, Gesichtsausdrücken und Gesprächen fiktive Figuren im Innern eines Autos neigen.

Frappierend war der Transfer von Zeichen im Fall von Paul Thomas Andersons „Punch-Drunk Love“ und Alexander Paynes „About Schmidt“. Wenn Barry Egan, der von Adam Sandler verkörperte Held aus Andersons Film, vor den Tiefkühlschränken in einem Supermarkt steht, wenn die Produkte, Fertiggerichte in Pappschachteln, darin in einer Weise aufgereiht sind, dass ihre Farbfolge fast einen Regenbogen ergibt und es ausschaut wie auf den großformatigen Fotografien von Andreas Gurski, dann ist das wie ein visuelles Echo auf die Szene, in der sich Warren Schmidt, der von Jack Nicholson verkörperte Held aus Paynes Film, in einem identischen Supermarkt zu bewegen scheint, um sich mit Tiefkühlprodukten für die nächsten Monate einzudecken. Wenn Barry Egan an seinem Schreibtisch aus Holz sitzt, in einem in blaue Farbe getauchten Büro, dann ist das wie eine Spiegelung der ersten Szenen von „About Schmidt“. Darin sitzt Warren Schmidt an einem ganz ähnlichen Schreibtisch, in einem ähnlich blaustichigen Ambiente, den Blick auf die Uhr geheftet. Als es fünf wird, ist für Schmidt nicht nur ein Arbeitstag zu Ende, sondern ein ganzes Arbeitsleben. Für Barry Egan dagegen beginnt der Tag, nachdem er sich von seinem Schreibtisch erhoben hat und auf die Straße hinausgetreten ist. Die kalifornische Sonne spendet helles Licht, ein Auto rast vorbei, bevor es sich mit lautem Knall überschlagen wird. Es ist diese Differenz im Tonfall, Melancholie in dem einen, gebremster Wahnsinn in dem anderen Film, die „About Schmidt“ von „Punch-Drunk Love“ unterscheidet.

Etwas anderes aber vereint sie: ein sanfter, etwas durchgedrehter Humor, der dem weißen, mittelständischen Amerika und dessen Manien nahe tritt, ohne sie vorzuführen. Beide Filme erzählen zudem vom Scheitern und davon, wie es im amerikanischen Traum selbst schon angelegt ist: Wo jeder sich aus freien Stücken zu einem vorformatierten Glück zwingt, ist die Selbsttäuschung programmiert – und macht alles noch schlimmer. Während Barry Egan die Frau, von der er träumt, bekommt, richtet sich Warren Schmidt – den Jack Nicholson zurückhaltend und effektfrei als alten, hilflosen und zugleich sturen Mann gibt – schließlich ein in seinem Scheitern. Am Ende treten Tränen in seine Augen: eine schöne Szene in der imaginären Montage, die alle Tränen dieses Festivals zusammenbringt. CRISTINA NORD

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