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Neben der Glamourmaschine

Verunglückte Friedensboten, selbstreferenzielle Schlüsselszenen: Das Weltgeschehen ist dieses Jahr beim Cannes-Filmfestival angekommen

von CRISTINA NORD

Die ersten Szenen von Brian De Palmas „Femme Fatale“ wählen einen besonderen Schauplatz: den roten Teppich und die Treppen, die zum Grand Théâtre Lumière führen, dem größten Saal des Festivalpalais, dem Ort, an dem die festlichen Premieren der Wettbewerbsfilme stattfinden. Man sitzt also im Kino, Cannes 2002, am zweitletzten Tag, und sieht Cannes 2001. Eine Zeitschleife, die einen Augenblick lang Angst macht: Gibt es ein Außerhalb, ein Jenseits des Festivals? Gibt es ein Entkommen aus der Fiktion? Oder bleibt man für immer gefangen in diesem Kontinuum aus Film und Hotelzimmer? So weit freilich will De Palma nicht gehen. Die selbstreferenzielle Volte, mit der „Femme Fatale“ beginnt, macht ihm Spaß, sie ist ein bisschen frivol und mündet in einen Stromausfall, der die Vorführung im Saal unterbricht. Ist das etwa ein kleiner Triumph, den De Palmas Schauwertkino über die französische Filmkunst feiern will?

Was aber geschieht auf den Treppen? Ein Star hat ihren Oberkörper mit einem von Diamanten besetzten, schlangenförmigen Gebilde weniger bekleidet als vielmehr ausgestellt. Die Schaulustigen hinter den Absperrungen jubeln, eine Fotografin eilt rückwärts laufend den roten Teppich entlang, um die Dame im diamantenen Nichts auf Film zu bannen. Schlüsselszenen des Festivals sind das: zum einen die Fotografen, die vor jeder Premiere in leicht gebeugter Haltung vor den Gestalten in Abendrobe hereilen, um sie in ihrem Schreiten aufzunehmen und auf die Titelblätter der Zeitschriften zu bringen, zum anderen die Treppen, die hinaufzugehen so vieles impliziert: „den Übergang von einem Zustand in einen anderen“, wie es in einem Essay in Libération heißt, eine Ersatzhandlung in einer säkularisierten Welt. „Unsere Gesellschaft, desillusioniert von Gott“, heißt es in dem Essay von Pascal Lardellier, „charakterisiert sich durch eine generelle Leidenschaftslosigkeit gegenüber religiösen Praktiken. Im selben Atemzug erlangen heidnische Riten Macht, und deren Idole sind aus Fleisch und Blut.“ Das Grand Théâtre Lumiére sei eine Kultstätte, ein Bildertempel, der uns schenke, was wir im Inneren als magische Ikonen bewahren. Im Französischen, schreibt Lardellier, ist „image“ (Bild) ein Anagramm von „magie“.

Selbstreferenzialität war ein Wesenzug des diesjährigen Festivals. Schon der Eröffnungsfilm, Woody Allens „Hollywood Ending“, war ein Film über die Filmindustrie, ein Film, dessen Schauplatz ein Filmset war, dessen Figuren sich als Regisseure, Schauspieler und Produzenten verdingten. Eingermaßen simpel spielte Allen die Gegensatzpaare aus: Hollywood auf der einen, unabhängiges Kino auf der anderen Seite, Geld versus Kunst, Karriere versus Scheitern. Das lief so leidlich im Rhythmus der Komödie und endete in einer seltsamen Volte: Wenn der Film, für den ein während der Dreharbeiten erblindeter Regisseur verantwortlich zeichnet, in den USA sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik durchfällt, in Frankreich aber gefeiert wird, was heißt das für ein Kino, das tatsächlich und absichtsvoll mit dem arbeitet, was bei den Dreharbeiten zu „Hollywood Ending“ aufgrund der Blindheit des Regisseurs geschieht? Wie steht Woody Allen zum Film in seinem Film, diesem von Achsensprüngen versehrten Missgeschick, und wie steht er zu einem Kino, das die Techniken der Illusion bewusst missachtet? „Hollywood Ending“ lässt diese Fragen offen, und das ist ein bisschen feige.

Selbstreferenzialiät auch bei Olivier Assayas und Atom Egoyan. Assayas plündert für seinen verunglückten „Demonlover“ japanische Bilderwelten: Animes expliziten Charakters und Computerspiele zwischen pornografischer und gewalttätiger Fantasie, außerdem gibt es eine interaktive Snuff-Website. „Demonlover“ mag sich nicht entscheiden, ob er diese Bilder verdammen soll oder sie lieben will. So viel indes ist klar: Nutzen will er sie. Egoyan ist, obwohl er ein ganz anderes Sujet wählt, nicht mehr Glück beschieden. Auch er lässt unklar, wie er zu den Bildern im Film, wie er zum Film im Film steht. „Ararat“ behandelt den Völkermord an den Armeniern und das Vergessen, das sich darüber gelegt hat.

Gegen dieses Vergessen tritt eine der Figuren an, der Regisseur Edward Saroyan (Charles Aznavour), indem er einen Film macht. So bilden die Dreharbeiten das Zentrum von „Ararat“, um das herum sich mehrere konfliktreiche Familiengeschichten gruppieren. Ihnen gemein ist, dass sich an der jeweils individuellen Geschichte die Geschichte des Völkermords anlagert. Dabei flicht Egoyan mindestens zwei Stränge zu viel ein, und das, was wir vom Film im Film sehen, verrät nichts Gutes: Im Stil eines Historienschinkens ist es angelegt, und es sitzt zudem der Annahme auf, das Leid eines Völkermords lasse sich darstellen, so man nur hübsch drastisch vorgehe. Egoyan/Saroyan sparen nicht mit auf Pfählen aufgespießten Häuptern, herumliegenden Leichen und Vergewaltigungen, ganz so, als ließe sich das Entsetzen in seinem Abbild auflösen. Es erstaunt, dass Egoyan sich der Ambivalenz von Darstellbarkeit und Erzählbarkeit nicht bewusst war, und es erstaunt nicht wirklich; dass türkische Kritiker, von Le Monde nach ihrer Meinung zu „Ararat“ befragt, dem Film wenig abgewinnen konnten. Auch wenn die ästhetischen Gründe, die die befragten Kritiker für ihr negatives Urteil anführten, vorgeschoben sein mögen.

Das Weltgeschehen ist also an die Côte d’Azur gekommen. Gleich ob Nahostkonflikt, Waffenfetischismus und Schulmassaker, der Tod Carlo Giulianis, der Aufstand im Warschauer Getto oder der Völkermord an den Armeniern: Das Festival hat in diesem Jahr eine Reihe politisch aufgeladener Filme gezeigt. Manche davon wurden vorab als Friedensboten apostrophiert, was sich nach Ansicht als Irrtum herausstellte, und es gab Konfliktlinien zu bestaunen, von denen man nicht gedacht hätte, dass man ihrer zwischen Grandhotel und Touristenschnickschnack, zwischen Privatstrand und den Love-Parade-Miniaturen auf der Croisette gewahr würde.

Es begann mit einem Boykottaufruf: Der American Jewish Congress forderte dazu auf, sich in diesem Jahr vom Festival fernzuhalten, weil Le Pen in Cannes im ersten Wahlgang 27,3 Prozent und im zweiten 30,24 Prozent der Stimmen erhielt. Knapp 70.000 Menschen leben in Cannes, 45.505 von ihnen dürfen wählen, über 10.000 haben sich für die Front National entschieden. Wohlstand und gutes Wetter scheinen also keine Garantien gegen den Erfolg rechter Parteien. Was nun den Boykottaufruf anging, so fanden sich auf der Stelle entschiedene Gegner: unter anderem Woody Allen, Claude Lanzmann und Claude Lelouch, dessen „And Now … Ladies an Gentlemen“ den gestrigen Abschlussabend bestritt.

Der Nahostkonflikt schien in Cannes aufgehoben zu sein. „Wenn Amos Gitaï an Ariel Scharons Stelle rückte, Hany Abbu-Assad den Platz von Jassir Arafat einnähme und George Bush durch David Lynch ersetzt würde, wäre die Welt des Nahen Ostens gerechter und die Kriegsreporter wären arbeitslos.“ Mit diesen Worten zitierte Le Monde einen ägyptischen Kritiker, nachdem „Kedma“, der Wettbewerbsbeitrag des israelischen Regisseurs Amos Gitaï, gezeigt worden war. (Hany Abbu-Assad ist ein palästinensischer Regisseur, der in der „Semaine Internationale de la Critique“ den Film „Rana’s Wedding“ vorstellte, David Lynch war in diesem Jahr Jurypräsident.) Erstaunlicherweise fehlte in dieser Gleichung ein Name: der Elia Suleimans, eines palästinensischen Regisseurs, dessen „Divine Intervention“ im Wettbewerb vertreten war.

Vielleicht fehlte der Name aber auch aus gutem Grund. Denn „Divine Intervention“ mag vieles sein, ein Friedensbote ist der Film sicher nicht. Zunächst einmal ist es ein Film, der dem Konflikt mit den Mitteln der Groteske trotzt. Kleine, absurde Handlungen werden wiederholt und variiert, in einem klaren filmischen Verfahren, das Schuss-Gegenschuss und lange Einstellungen verbindet. Bisweilen weitet sich das Setting ins Phantasmagorische, etwa wenn der von Suleiman verkörperte Protagonist E. S. einen Nektarinenkern aus dem Autofenster wirft und dieser Kern einen israelischen Panzer trifft, der daraufhin explodiert. Oder wenn eine junge Frau den Checkpoint passiert, indem sie ihn in einen Laufsteg verwandelt. Die israelischen Soldaten sind davon so verwirrt, dass sie die Maschinengewehre in ihren Händen vergessen. Später wird eine andere junge Frau zur Ninja-Kämpferin. Sie erledigt mehrere israelische Soldaten, indem sie sich aller Tricks und Kniffe asiatischer Kampfkunst bedient. Bevor sie verschwindet, brennt sich eine palästinensische Fahne in den Wüstenboden.

Ob er damit eine Heldin entwirft? Nein, sagt Suleiman im Gespräch, er zeige die Fantasie eines Ohnmächtigen. Es habe keinen Sinn, Fantasien zensieren zu wollen. Entschieden verwehrt er sich gegen die Idee, in Cannes Seite an Seite mit Amos Gitaï (mit dem er für den Film „War and Peace in Vesoul“ zusammengearbeitet hat) zu repräsentieren, dass der Nahostkonflikt sich durch künstlerische oder intellektuelle Arbeit aufheben lasse: „Die westlichen Medien behandeln uns, als seien wir Liebhaber. Wir sind es nicht.“ Nach der Kampfkunstszene sieht man Elia Suleiman respektive E. S. beim Zwiebelschneiden, in seinen Augen stehen Tränen. Und am Ende von „Divine Intervention“ rückt ein Dampfkochtopf ins Bild. Er steht unter Druck, wahrscheinlich wird er nach dem Abspann explodieren, auch wenn der Herd abgestellt worden ist.

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