Hinein ins immer schon Gesagte

Eine schöne Leich: Die Popliteratur ist tot, es leben ihre antikunstreligiösen Impulse! Moritz Baßler beschreibt den „Deutschen Pop-Roman“ und propagiert das literarische Paradigma des Archivierens. Bekommt Max Goldt bald den Büchnerpreis?

Literatur ist keine Instanz des Einspruchs gegen Medien und Konsum

von DIRK KNIPPHALS

Noch mal über Popliteratur sprechen? Echt?

Jedenfalls: Zwei, drei Jahre lang mag dieses Phänomen unseren Literaturbetrieb in Atem gehalten haben – was, man erinnere sich, sowohl zu Jubelarien und Aufbruchsfantasien als auch zu Flüchen und Verwünschungen führte. Spätestens in diesem Frühjahr jedoch bestimmten wieder die altbekannten Namen die Debatten. Peter Handke (etwas weniger). Christa Wolf (etwas mehr). Günter Grass (sowieso). Und Marcel Reich-Ranicki, der Unvermeidliche, rettet uns mit einem akkurat im Karton verpackten Kanon von 20 Klassikern vor der Barbarei; behauptet er zumindest.

Das literarische Imperium schlug zurück. Mit dieser Diagnose kann man im so genannten kleinen Kreis derzeit übrigens alle Spielarten resignierter Gesten provozieren. Die Hauptfiguren im deutschen Literaturspiel scheinen naturgegeben, da kann man nichts machen. In puncto Popliteratur dagegen sind die Schwanengesänge längst nicht nur geschrieben, sondern teilweise auch schon wieder vergessen worden. Popliterat sein eignet sich nicht mehr als Eintrittskarte in den Autorenklub. Sich über die Popliteraten aufregen ist als Möglichkeit zum Distinktionsgewinn innerhalb der althergebrachten Literaturbetriebszirkel auch ausgelutscht.

Insofern muss man schon unwillkürlich etwas schmunzeln, wenn sich nun eine ehrwürdige Institution des Phänomens annimmt, die man diesbezüglich noch nicht auf der Rechnung hatte: die deutsche Literaturwissenschaft. Moritz Baßler, Jahrgang 1962, ist Assistent am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur in Rostock und hat in seinen Seminaren zur Literatur der 90er-Jahre schon mal Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre behandelt (zum Ärger ansässiger Buchhändlerinnen, wie er in einer Anekdote genüsslich durchblicken lässt). Nun legt er, wohlfeil als Taschenbuch, eine Studie mit dem Titel „Der deutsche Pop-Roman“ vor, und das folgt so sehr der bekannten Weisheit, dass die Eule der Wissenschaft ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt, dass einem wie von selbst das Wort Verspätung in den Sinn kommt. Thema tot. Und schon kommt die Germanistik daher. Aha.

Doch so leicht sollte man es sich mit diesem Buch nicht machen. Was die allerneuesten Tendenzen in der Literatur betrifft, gibt es schließlich – wie hieß das in Universitätskontexten immer so schön? – eine ganze Menge unausgeleuchteter Aspekte. Unbedingt hingewiesen werden muss etwa darauf, dass die gern kolportierte Erklärung, nach der die Popliteratur im allgemeinen Trend zur Spaßkultur aufkam und im Zuge einer Neuverernstung der Diskurse wieder an Boden verlor, zu eng ist – auch wenn diese Lesart durch den 11. September nachträglich an Nobilität gewann.

Mit Moritz Baßler dagegen kann man die einfachen, folgenreichen Fragen noch einmal stellen: Wie kam es zur Popliteratur? Was wird von ihr bleiben? Und was bedeutet das für die Literatur als Ganze? In diesem stellenweise etwas flockig-locker geschriebenen und zunächst unscheinbar wirkenden Buch wird die Popliteratur nicht als ein Phänomen behandelt, das gleichsam von außen über den Literaturbetrieb kam und, bitte schön, fein säuberlich von „eigentlicher“ Literatur getrennt behandelt werden sollte. Baßler diagnostiziert eine Änderung des Literaturverständnisses selbst.

Man stößt bei ihm auf ein Wort, das in den noch von Habermas dominierten 80er-Jahren in den geisteswissenschaftlichen Seminarräumen unvermeidlich war: das des Paradigmenwechsels. Und zwar ist hier keineswegs eine Reprise des propagierten Wechsels vom schwierigen, avantgardistischen Schreiben hin zum unterhaltsamen, realistischen Erzählen gemeint, der in den frühen Neunzigern als große Literaturdebatte Furore machte. Mit beiden Erzählstrategien hat Baßler wenig am Hut, wie er anhand von Analysen der Spätavantgardisten Hertha Müller und Wolfgang Hilbig (kürzlich Büchnerpreisträger geworden) einerseits sowie des Realisten Bernhard Schlink andererseits demonstriert. Bei Schlinks bestsellerträchtiger Verbindung von Sex und Nazizeit im „Vorleser“ wird der Autor nachgerade böse („einigermaßen unappetitlich“); dies nur, um das mögliche Missverständnis von vornherein auszuschließen, dass hier das vermeintlich Allgemeinverständliche gegen anspruchsvolle Literatur ausgespielt werden soll.

Das Paradigma, das Moritz Baßler dagegen propagiert, ist das eines neuen Archivismus. Die Popliteraten and friends, sagt er, archivieren „in geradezu positivistischer Weise Gegenwartskultur, mit einer Intensivität, einer Sammelwut, wie sie im Medium Literatur in den Jahrzehnten zuvor unbekannt war“. Hört sich zunächst geradezu unliterarisch an. Gewinnt aber sofort analytisches Gewicht, wenn man erstens an die vielen Listen und die genau bezeichneten Kleidungsgegenstände und Musiktitel in den neuen Romanen denkt. Und sich zweitens vergegenwärtigt, dass sich in letzter Zeit ein so geflissentlicher Archivar wie Walter Kempowski so die Position eines heimlichen Klassikers und Gründungsvaters erschreiben konnte.

Es gibt noch eine Zusatzthese. Laut Moritz Baßler „operiert der neue Archivismus – implizit oder explizit – mit der Prämisse, dass die Kultur der Gegenwart und somit unsere Sprache – und damit die Sprache jeder möglichen Literatur – immer schon medial und diskursiv vorgeformt ist“. Um Namen zu nennen: Andreas Mand, Matthias Politycki, Max Goldt, Benjamin von Stuckrad-Barre, Thomas Meinecke, Rainald Goetz, Joachim Lottmann, Thomas Kapielski, Andreas Neumeister – wahrlich ein Kanon, den MRR auch nicht mit spitzen Fingern anfassen würde! – schreiben für Moritz Baßler notwendig eine „Literatur der zweiten Worte, die im Material einer Sprache des immer schon Gesagten arbeitet“. Dies ist die Literatur, der Baßler seine Sympathien entgegenbringt.

Nun möge man sich diese Studie allerdings keineswegs als überhöhende, irgendwie postmodern inspirierte Theorie der genannten archivierenden Autoren vorstellen. Baßler (eben doch ein Germanist) erläutert seinen Ansatz nämlich in genauer Textarbeit und rollt dabei, man kann es nicht anders sagen, die Literaturszene erfrischend schräg von der Seite auf. Benjamin von Stuckrad-Barre etwa kommt erstaunlich gut weg. Dezidiert am Text analysierend, attestiert Baßler ihm ein „souveränes Navigieren in der Enzyklopädie einer Generation“, was schlicht bedeutet, dass er sich perfekt in der Art und Weise auskennt, wie in seiner Altersgruppe gedacht und geredet wird. Auch mit „Tristesse Royale“, diesem wohl meistverrissenen Buch der vergangenen Jahre, weiß Baßler etwas anzufangen: „überaus konsequent durchgeführt“. Und, wir können es bezeugen, Baßler weiß diese Urteile auch zu begründen.

Schon diese Beispiele zeigen, wie quer diese Studie zur hierzulande immer noch gängigen Literaturkritik steht. Baßler legt keine Authentizitätsmaßstäbe an Bücher an, sondern beobachtet, wie raffiniert Texte als Texte gebaut sind und wie souverän sie mit ihrem Material umgehen. So kommt er gar nicht dazu, den Popliteraten „Schnöseltum“, Konservatismus oder was da in den Besprechungen alles unter Urteilen lief, vorzuwerfen. Und die „Oberflächlichkeit“, zweiter Standardvorwurf gegen die Popliteratur, behandelt er nicht als Defizit dieser Texte, sondern gerade als ihr Anliegen.

Es ist allein der Text, der zählt. In den Abschnitten, in denen er bislang nur höchstens wohlwollend als „Gebrauchstexte“ behandelte Bücher so genannter Hochliteratur entgegenhält, bereitet Baßler einem manches Aha-Erlebnis: Die Gebrauchstexte können mehr als mithalten. Und es stimmt ja auch: Wer jemals über einen Satz von Max Goldt, für Baßler ein Meister des literarischen Archivierens, herzhaft lachen konnte, verliert im Gegenzug gleichsam automatisch sein Sensorium für die Spreizungen etwa eines Botho Strauß oder Peter Handke. Diesen Lektüreeindruck kann man mit Baßler nun fundierter begründen. Der Literatur der „ersten Worte“, die „sprachlich vor dem Geplapper der Diskurse“ sein will, erteilt er eine gut begründete, dezidierte Absage.

Dies Verdikt trifft übrigens zum Teil auch einen genuinen Archivierer wie Rainald Goetz. Der, so heißt es an einer Stelle, „will archivieren, was noch nicht Diskurs ist. Er unterstellt … dem Leben und der Musik, der Drogenerfahrung und dem Sex Prädiskursivität“. Dieser Anspruch, authentisch und unironisch zu schreiben, verbaue ihm Baßler zufolge die „Möglichkeit der Arbeit am vorgefundenen Sprachmaterial“. Dass man in der gegenwärtigen Literatur nicht über eine Zweitbearbeitung der Diskurse hinauskommt, dass es keinen archimedischen Ort jenseits dieser Diskurse gibt, diesen Ansatz zieht Baßler in aller Konsequenz durch.

Man sieht: Mit Popliteratur als solcher haben diese Analysen nur noch bedingt zu tun. Auch nach Lektüre von Moritz Baßlers Studie kann man dieses Etikett guten Gewissens beerdigen. Aber was Baßler nutzen will, das ist gleichsam ihr antikunstreligiöser Impuls. Es kann für ihn keine „Gegenbücher“ mehr geben (wie sie zuletzt etwa noch in Peter Handkes Roman „Der Bildverlust“ erkannt wurden); literarisches Schreiben interessiert ihn nicht mehr als Einspruchsinstanz gegen unsere medial und konsumistisch geprägte Gegenwart. Vielleicht setzt sich diese Sichtweise demnächst durch. Was von der Popliteratur bleiben könnte, wäre dann – warum nicht träumen? – ein Büchnerpreis für, sagen wir: Max Goldt.

Gegen die Debatte, die Baßler anregt, wirken die Debatten, die in diesem Frühjahr tatsächlich geführt wurden, rückwärts gewandt.

Moritz Baßler: „Der deutsche Pop-Roman“. Verlag C. H. Beck, München 2002, 222 Seiten, 12,90 €