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Der gute Mensch vom Betzenberg

von FRANK KETTERER

An den Tag, an dem Markus Merk beschloss, seine Fußballerkarriere zu beenden und nur noch als Schiedsrichter auf dem Platz in Erscheinung treten zu wollen, kann sich der drahtige 40-Jährige aus Kaiserslautern noch sehr gut erinnern. Es war in der C-Jugend, Merk noch keine 15, und obwohl er im Vergleich zu seinen Altersgenossen doch eher klein und schmächtig wirkte, gehörte er, schon wegen seiner Wuseligkeit und technischen Raffinesse, zur Stammelf des 1. FC Kaiserslautern. Bis zu diesem Tag zumindest, an dem sich auf dem „Betze“, Kaiserslauterns berühmtem Fußballberg, zutrug, was auf deutschen Fußballplätzen so oder ähnlich immer wieder passiert und doch immer wieder eine kleine Tragödie ist für den, der es erlebt.

Bei Merk war es an diesem Tag so, dass er vom Platz gestellt wurde für einen schwächeren Spieler, dessen Vater beim Trainer den Einsatz seines Sohnes durchgesetzt hatte. „Ich habe das damals als große Ungerechtigkeit empfunden“, sagt Markus Merk. Und auch, dass er an diesem ungerechten Tag den Entschluss gefasst habe, nur noch Schiedsrichter sein zu wollen.

Das ist natürlich ein guter Grund, vielleicht der beste, den man überhaupt haben kann. Schließlich sind Schiedsrichter ja auch Richter, zumindest auf dem Fußballfeld, und wenn das also einer der Gerechtigkeit wegen wird oder besser gesagt wegen seines Sinns dafür, dann kann aus dem bestimmt einmal ein ganz passabler Schiedsrichter werden. Aus Markus Merk ist einer der anerkannt besten seiner Zunft geworden, nicht nur in der Fußball-Bundesliga, wo er seit 14 Jahren pfeift, sondern weltweit. Seit 1992 ist er Fifa-Schiedsrichter, im internationalen Einsatz also, unter anderem hat er bei der letzten Europameisterschaft in Belgien und den Niederlanden gepfiffen und vor zehn Jahren schon bei den Olympischen Spielen von Barcelona.

Einmal, im Sommer vor sechs Jahren war das, wurde er sogar vom brasilianischen Fußballverband eingeladen, um ein Spitzenspiel in der brasilianischen Meisterschaft zu pfeifen. Nach Spielende stand ein Großteil der knapp 100.000 Menschen im Stadion auf und zeigte mit dem Daumen nach oben. „Die hatten mich und meine Leistung akzeptiert“, sagt Merk, und man merkt, dass er darauf ganz schön stolz ist.

Jetzt ist Markus Merk, der 40-jährige Zahnarzt aus Kaiserslautern, also nach Südostasien geflogen, um dort als einziger deutscher Schiedsrichter bei der WM zu pfeifen. Es ist der bisherige Höhepunkt seiner Karriere als Unparteiischer.

Wobei es andererseits, nur um den Gedanke von vorhin nochmals aufzugreifen, natürlich ziemlich kitschig klingt, konstruiert beinahe, auf jeden Fall irgendwie zu schön, um wirklich wahr zu sein: Dass einer von seinem Gerechtigkeitssinn zur Schiedsrichterei getrieben wird. Merk aber darf man das getrost glauben. Man braucht ja nur zuzuhören, wenn er von Sogospatty erzählt, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie ernst es ihm mit der Gerechtigkeit ist, nicht nur mit der auf dem Platz.

Helfen in Sogospatty

Die Geschichte von Sogospatty, das man mit „Gemeinschaft der guten Samariter“ übersetzen kann, ist die Geschichte von einem jungen Zahnarzt, der „immer mal in der Dritten Welt arbeiten“ wollte, „selbst Hand anlegen“, wie er das nennt. Vor elf Jahren dann reiste der junge Merk zusammen mit seiner Frau Birgit folgerichtig nach Indien, um mittellosen Kindern „auf einer grünen Wiese Zähne zu ziehen“.

Damals, sagt Merk heute, „haben sich bestimmte Dinge geistig entwickelt“. Und deshalb hat er damals beschlossen, noch mehr zu tun, nämlich richtig und dauerhaft zu helfen. 1993 kauft er in Indien ein Stück Land, drei Jahre später gründet Merk die „Indienhilfe Kaiserslautern“, einen Spendenverein, dessen Vorsitzender er ist. Ein weiteres Jahr später entsteht auf dem Stück Land Sogospatty, ein Kinderdorf mit einer Schule für rund 150 Kinder und einem Waisenhaus, in dem 30 der Ärmsten ein Zuhause gefunden haben.

„Vielleicht“, sagt Merk, „haben Indien und Sogospatty tatsächlich auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun.“ Er sagt diesen Satz etwas zögerlich, beinahe so, als sei ihm der Gedanke eben erst in den Sinn gekommen. Es sei einfach ungerecht, fährt Merk fort, „wenn Menschen gar nicht die Chance haben, ihr tägliches Brot sorgenfrei erwerben und ein lebenswertes Leben führen zu können“. Sondern auf einem Niveau existieren müssen, „das so niedrig ist, dass wir es uns gar nicht vorstellen können“.

Und dann sagt Markus Merk, der Schiedsrichter und Entwicklungshelfer aus Kaiserslautern, dass Gerechtigkeit „in erster Linie eine Einstellungssache“ sei, eine Lebenseinstellung also, und dass sie „nichts zu tun“ habe mit „richtigem Handeln“, sondern in erster Linie damit, „es zu versuchen“.

Einklang der Welten

Vielleicht ist es dieser Gedanke, dieser Satz, der die Brücke schlägt, einen weiten Bogen von Sogospatty in Indien zu den Fußballfeldern der Bundesliga. „Ich bin Schiedsrichter, weil ich lieber Verantwortung übernehme, als nur darüber zu reden“, sagt Markus Merk – und genau den gleichen Satz, der ein bisschen klingt, als sei er von einer Werbeagentur am Reißbrett entworfen worden, könnte er auch über sein Engagement in der Dritten Welt sagen: Ich habe Sogospatty ins Leben gerufen, weil ich lieber helfe, als nur darüber zu reden – in etwa so würde sich das dann wohl anhören. Für Merk bedeutet beides gelebte Gerechtigkeit.

Wobei der Bogen, der ganz persönliche, den der Katholik dabei zu schlagen hat, kein leichter ist. Weil die Gegensätze kaum größer und ungerechter sein könnten: Hier die Bundesliga, der Klub der jungen Millionäre, dort Sogospatty mit den Ärmsten der Armen. Und es ist schon vorgekommen, dass Merk gestern noch in Indien Hilfe leistete und heute schon auf einem deutschen Fußballplatz schlichten musste, weil Effenberg und Co. sich mal wieder um einen Einwurf irgendwo in Höhe des Mittelkreises gezankt haben.

„Das sind zwei Welten, krasser kann’s nicht sein“, sagt Markus Merk. Mit beiden leben zu können hat er mit der Zeit erst lernen müssen. „Mittlerweile kann ich den Hebel sofort umlegen, sonst könnte ich das nicht managen“, sagt der 40-Jährige. „Ich habe erkannt, dass das, was man gerade macht, in diesem Moment das Wichtigste ist“, fügt er an, und dieser Merk-Satz klingt, als käme er direkt aus dem Mund eines indischen Yogi.

Merk hat die beiden Welten in Einklang gebracht, zumindest für und auch in sich. „Man kann aus der einen Kraft schöpfen für die andere“, sagt er und auch, dass Sogospatty ihm „viel zurückgegeben“ habe. „Ich habe durch Indien eine unheimliche Gelassenheit gewonnen“, erzählt Merk, eine innere Ruhe, die ihm auch hilft, wenn es auf dem Platz mal wieder stürmt und tobt und Effenberg sich über einen Einwurf in Höhe des Mittelkreises echauffiert. In diesem Moment, in diesem Augenblick ist dieser Einwurf auch für Markus Merk, den Schiedsrichter, von immenser Wichtigkeit. Mehr aber auch nicht, eben weil er weiß, dass es in einer anderen Welt noch andere Dinge gibt. „Mehr denn je hasse ich Ausdrücke wie Schicksalsspiel“, sagt Markus Merk. „Schicksal ist bei mir mit etwas anderem verknüpft.“

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