: Bleibe ohne Zuhause
von KATHRIN EMEIS
Die Häuserreihen waren grau und schmutzig. Jedes Haus sah gleich aus, achtstöckig, mit den gleichen dreckigen, dunklen Wänden, von denen die Farbe abblätterte, mit den gleichen Fensterrahmen aus altem Plastik, aus rotem Plastik. Aufgeplatzter Asphalt, kein bisschen Grün, kein Baum, kein Strauch.
Wie sollte man hier leben können? Und doch hatten schon so viele Menschen hier gelebt. „Hauptsache, wir sind hier“, hatte Vater gesagt.
In einer Ecke standen Mülltonnen, riesige Mülltonnen. Sie würden in 196b wohnen, ganz hinten, dort, wo die U-Bahn am lautesten dröhnte, dort, wo nachts im Schutz der hohen Mauern die Obdachlosen schliefen. Die beiden Taschen standen einsam vor der Tür. Sie gehörten hier nicht her, nicht hierher, nicht in dieses Haus, nicht in diese Straße, nicht in diese Stadt, nicht in dieses Land. Ihr Briefkasten war ausgebrannt. Würden sie jemals Nachricht bekommen? „Silvester“, sagte der Hausmeister entschuldigend, „diese verdammten Jugendlichen.“
Er schloss ihnen die Tür auf. Das Treppenhaus war kahl, die Stufen verdreckt. Ein Mann lag wie leblos auf dem schmutzigen Boden, mit alten, zerknitterten Zeitungen bedeckt. Er hob den Kopf, sah sie an und lächelte. Er hatte keine Zähne im Mund. Vater drehte sich weg. Er nahm beide Taschen. Es stank nach Essen und Schweiß. Stimmen drangen zu ihnen ins Treppenhaus, laute Stimmen, die unverständliche Dinge sagten. Ihre Wohnung lag im zweiten Stock, rechts neben der Treppe. Vater stellte die beiden Taschen auf den Boden. „So, hoffentlich gefällt‘s Ihnen.“ Der Hausmeister drückte Vater einen Schlüssel in die Hand.
Dann ging er. Er hatte genau gewusst, dass es ihnen nicht gefallen würde. Es konnte einem doch gar nicht gefallen. Vater stand da, mit hängenden Schultern, das Gesicht schmal, die Wangen unrasiert. Er war dünn geworden. Knochig. Und er sah alt aus, sehr alt. Wie ein alter, kranker Mann. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte. Die Tür sprang mit einem schnarrenden Geräusch auf, das Vater zusammenzucken ließ. Die Tapete war heruntergerissen, der Teppich fleckig und abgetreten. Vaters Blick wanderte einmal durch den ganzen Raum, mit seinen müden, großen Augen sah Vater alles, er hatte schon immer alles mit einem einzigen Blick sehen können, dann ging er weiter in die Küche. Sie war gesäubert worden, nicht gründlich, nur ein wenig, aber immerhin. Im zweiten Zimmer standen zwei Klappbetten, mit muffigen Matratzen, mit dünnen, alten Decken. Es hatten schon so viele Menschen hier geschlafen.
Vater sah ihn an. Er erkannte die Augen seines Vaters in der Dämmerung nicht, es waren nur tiefe, schwarze Höhlen ohne Ausdruck, die ihn ansahen. „Nicht weinen“, sagte Vater mit seiner warmen, weichen Stimme, die nach früher klang. Er hätte gerne die Augen von Vater gesehen. Er fühlte Vaters Hand auf der Schulter, die so schwer zu sein schien wie ein Stein. Vater setzte sich auf das Bett neben der Tür. „Ich bin müde“, sagte er leise.
Sein Blick ließ den schmalen Umriss seines Vaters los und glitt ins Leere. Er drückte die Augen fest zusammen und bückte sich, um seine Schuhe aufzumachen. Die Tränen pochten gegen die Lider. Sie wollten nicht länger ungeweint bleiben. Er öffnete die Augen und spürte Tränen über seine Wangen laufen. Eine sehr große Träne tropfte auf seinen Schuh und hinterließ einen dunklen Fleck.
Er sah Vater als Schatten auf dem Bett. Vater war verschwommen. Ein trauriger, großer Körper, der von Tränen verschwommen war. Jetzt legte der Körper sich hin. „Schlaf gut“, hörte er Vaters Stimme, aber er konnte nicht antworten. Er fragte sich nicht, ob er jemals wieder gut schlafen würde. Er dachte an zu Hause, das nicht mehr sein Zuhause war und es doch immer bleiben würde.
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