piwik no script img

Ein Provisorium wird zum Politikum

Desaströse Zustände im Flüchtlingslager Sangatte belasten die französisch-britischen Beziehungen. Bislang beschränken sich die Ideen auf eine Verschärfung polizeilicher Maßnahmen. Nach den Wahlen in Frankreich soll eine europäische Lösung her

aus Paris DOROTHEA HAHN

Die Unterkunft am Ortsrand des Dorfes Sangatte sollte ein Provisorium sein. Ein humanitäres Angebot für die aus dem Kosovo und später aus Afghanistan und dem Irak geflohenen Familien, die in den Parks von Calais und längs der Landstraßen campierten, während sie auf eine Gelegenheit zur Flucht nach Großbritannien warteten.

Drei Jahre nach der Eröffnung ist das Provisorium zum Politikum geworden. Statt der erwarteten 600 suchen beinahe 1.500 Menschen Unterschlupf in der Werkshalle. Statt weniger Tage bleiben sie unfreiwillig wochen-, manchmal monatelang. Die Lebensbedingungen sind hart geworden. Enge und Nervosität führen immer häufiger zu Streit. Ende April kam bei einer Messerstecherei ein junger Mann um.

Die Flucht nach Großbritannien, für die jeder Flüchtling Tausende Dollars an Schlepper bezahlt hat, ist schier unmöglich geworden. Die Eurotunnelgesellschaft und der Hafen von Calais haben ihre Anlagen mit höheren Zäunen, helleren Flutlichtanlagen, mehr Wachschützern und immer neuem technologischem Schnickschnack „gesichert“.

Zugleich ist der Aufenthalt im Dorf Sangatte nur noch schwer zu ertragen. Schon früher organisierte eine Bürgerinitiative Demos gegen „das Lager“. Bei den Präsidentenwahlen stimmten 30 Prozent für den Kandidaten der rechtsextremen Front National. Sie wollen die Flüchtlinge loswerden. Ex-Präsidentschaftskandidat Jean-Marie Le Pen hat „verplombte Flüchtlingszüge“ nach London vorgeschlagen.

Seither hat die nationale und internationale Auseinandersetzung über das Provisorium von Sangatte neue Dimensionen erreicht. Mit Innenminister Nicolas Sarkozy reiste Ende Mai erstmals ein Regierungsmitglied aus Paris in die Werkshalle. In London meldeten die Medien den Vollzug einer langjährigen Forderung der britischen Regierung: das Lager werde geschlossen. Als Gegenleistung habe London zugesagt, die Flüchtlinge aus Sangatte aufzunehmen.

So weit ist die franko-britische Annäherung auf dem Rücken der Flüchtlinge von Sangatte noch nicht gediehen. Jedenfalls dementieren die britische Labour-Regierung und die neue rechte Übergangsregierung in Paris unisono Schließungspläne. London will die Diskussionen mit Paris erst nach den Parlamentswahlen beginnen. Also nach dem 16. Juni. Und der Pariser Innenminister Sarkozy erklärt, dass er langfristig das Lager schließen wolle. Doch erst, wenn „echte Lösungen“ gefunden seien, und zwar europäische.

Großbritannien, so sagte Sarkozy, solle seine Asylpolitik der kontinentaleuropäischen Praxis anpassen. Die gegenwärtige generelle Arbeitserlaubnis für Asylbewerber ziehe zu viele Flüchtlinge an. Die übrigen europäischen Länder müssten erkennen, dass die in Sangatte angekommenen Flüchtlinge zuvor italienisches, belgisches und deutsches Territorium durchquert haben. Frankreich könne sie in diese zuerst betretenen Länder der Schengen-Zone zurückschicken. So sieht es das Schengen-Abkommen vor.

Bei seinem ersten Frankreich-Besuch nach den Präsidentschaftswahlen äußerte sich auch Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Thema der europäischen Flüchtlingspolitik. Begründung: „Wir können es nicht den Rechtsextremen überlassen.“ Beim Präsidentenbesuch am Montag erklärte er: „Wir nehmen die humanitären Fragen sehr ernst, aber sind uns auch bewusst, dass wir die Grenzen kontrollieren und die Einwanderung eindämmen müssen.“

Politische Lösungen für künftige Flüchtlinge haben weder die britische noch die französische und die deutsche Regierung. Sie sprechen von polizeilichen Maßnahmen. Von der Schließung der Notunterkunft, von Aufrüstungen an den EU-Außengrenzen und vom Einsatz von Royal-Navy-Schiffen gegen Flüchtlingstransporte im Mittelmeer. Am 21. und 22. Juni wollen die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel in Sevilla über weitere europäische Maßnahmen beraten.

Das heißt, nach den französischen Wahlen. Deswegen muss Frankreichs Innenminister vorerst auf nationalem Weg beweisen, dass er es ernst meint mit der „Wiederherstellung der Ordnung“. Auch deshalb wird Sangatte nicht so schnell aus den Schlagzeilen verschwinden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen